Anthroposophische Ärzte im Nationalsozialismus

Anthroposophische Ärzte im Nationalsozialismus

23 November 2024 Peter Selg 178 mal gesehen

Waren die anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte Mitläufer, Profiteure oder Opponenten der Medizin im Nationalsozialismus und seiner ‹Neuen Deutschen Heilkunde›? 


Wie positionierte sich die anthroposophische Ärzteschaft zu den Leitlinien und Konsequenzen der NS-Medizin – von der biologischen Erfassung der gesamten Bevölkerung unter dem Diktat der ‹Volksgesundheit› und maximalen Leistungsfähigkeit über den Ausschluss jüdischer Kolleginnen und Kollegen bis hin zu Zwangssterilisationen von Menschen, deren Fortpflanzung nicht erwünscht war, und zur Tötung psychiatrischer Patientinnen und Patienten?

Wenn die anthroposophische Ärzteschaft wirklich, wie von anthroposophischer Seite oft betont, Teil einer zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegung war, warum konnten sie dann nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft im November 1935 noch weiterarbeiten, in Praxen und Kliniken, in einzelnen heilpädagogischen Heimen – und hatten anthroposophische Arzneimittel zur Verfügung, die die Weleda und Rudolf Hauschka nach wie vor produzierten? Gehörten sie doch eher zum Regime – und waren am Ende eine privilegierte und kooperative Gruppe mit ideologischer Konvergenz, wie Kritiker schon wiederholt behauptet haben? Führende Nationalsozialisten wie Otto Ohlendorf sahen sich und ihre Familien gerne in anthroposophischen Praxen betreut – der bekannte anthroposophische Pädiater Wilhelm zur Linden beschrieb in einer weitverbreiteten Autobiografie seine politisch prominente Klientel und war vielleicht nicht der Einzige, dessen große Praxis von führenden Nationalsozialisten (aber auch Oppositionellen) gerne aufgesucht wurde. Fügte sich die Anthroposophische Medizin ins biopolitische Konzept der Nationalsozialisten, mit der Aufwertung des ‹Natürlichen›, des Ökologischen und Prophylaktischen? Mehr Immunität, Lebenskraft und Resistenz wollten die führenden NS-Ideologen, mehr ‹Gesundheit› und ‹Lebenskraft› für das ‹deutsche Volk›. War die anthroposophische Heilkunst die für sie passende Form der ‹biologischen Medizin›?

Diese und ähnliche Fragen, die nicht ohne Brisanz und Aktualität sind, führten die Akademie der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärtze in Deutschland (GAÄD) 2016 dazu, das Ita-Wegman-Institut um die Ausarbeitung einer Studie zur Anthroposophischen Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus zu bitten, in Zusammenarbeit mit einem unabhängigen, wissenschaftlich hoch qualifizierten Beirat, den NS-Medizinhistorikern und Charité-Professoren Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach. Nun erschien im renommierten Schwabe-Verlag (Basel/Berlin), dem ältesten Wissenschaftsverlag der Welt (gegründet 1488, ‹Offizin Petri›), der erste von drei Bänden – mit über 900 Seiten. Er behandelt das Verhältnis der Anthroposophie zum Nationalsozialismus (und vice versa) sowie das Verhalten der anthroposophischen Ärzteschaft 1933 bis 1945. Band 2 und 3 werden 2025 bei Schwabe erscheinen – zur Weleda und zur Wala (Band 2) und zur anthroposophischen Psychiatrie und Heilpädagogik (Band 3).

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.

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Buch Peter Selg, Susanne H. Gross, Matthias Mochner: Antroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft. Schwabe Verlag, 2024.

Titelbild Geheimes Staatspolizeiamt (später Reichssicherheitshauptamt), 1933. Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8. Quelle: Bundesarchiv