Bereit für die Gelegenheit
Letztes Jahr wurde in Frankreich, den USA, den Niederlanden und Österreich gewählt, jetzt in Deutschland. Wolfgang Held im Gespräch mit Gerald Häfner.
Zeigen die Wahlen ein einheitliches Bild, das beunruhigt?
Es stimmt mich sorgenvoll, denn unsere demokratischen Gesellschaften drohen zu zerbrechen. Demokratie baut auf einem Raum, in dem sich Sichtweisen begegnen und wandeln, um zu von möglichst vielen getragenen Entscheidungen zu kommen. Dieser Gesprächsraum erodiert. Politische Kräfte, die Feindbilder aufbauen, gewinnen Gewicht. Die Unerbittlichkeit, mit der jetzt gestritten wird, macht mir Sorgen.
Steckt hinter dieser Wut sublimierte Angst?
Die Welt verwandelt ihr Gesicht. Das erzeugt Angst. Was als Angst beginnt, endet häufig in Wut, vor allem wenn wir uns der Angst und ihrem Ruf, uns selbst zu wandeln, nicht bewusst werden. Sie auszuhalten, braucht Stärke. Wo ich es schaffe, ihr auf den Grund zu gehen, entwickle ich Mut zu handeln. Wut ist das Gegenteil von Mut. Sie offenbart Schwäche, Flucht vor der Angst. Sie richtet sich gegen andere – ohne die Umschmelzung durch Selbsterkenntnis. Sie braucht Objekte, die (angeblich) Schuldigen. Das ist ein hochgefährliches Spiel, das viele Akteure beherrschen. Die Bewirtschaftung von Wut ist zu einem einträglichen Geschäft geworden.
Was hilft gegen die Angst?
Der Schlüssel liegt im Herzen, in der Seele jedes Einzelnen. Gerade in der Politik, wo man oft auf frostigem Terrain unterwegs ist, zählt der Moment, in dem sich Wärme bildet. Da hat man festen Boden. Plötzlich begegnet man im anderen Menschen etwas, auf das man vertraut. Dann sind gemeinsame Entscheidungen möglich. Fast alle Anträge, die ich ins Parlament eingebracht habe, entstanden interfraktionell. Ich bin dafür auf Menschen zugegangen, die mit einem anderen Ticket unterwegs waren, weil mir klar war: Wenn wir da Übereinstimmung finden, kann es Bestand haben – im Parlament und in der Gesellschaft. Man kann und muss immer im anderen dieses Menschliche finden, wo Beziehung möglich wird und trägt. In der Politik ist es heute schwerer geworden, weil wir uns weniger begegnen. Zu viele Begegnungen finden nur noch virtuell statt. Da hat man schnell ein Bild – aber kann keine Brücke bauen.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
Foto Plenarsaal des Deutschen Bundestages. CC BY 3.0.