Der Faust wird jünger
Die Goetheanum-Bühne und die Mitwirkenden der Neuinszenierung von Johann Wolfgang Goethes ‹Faust 1 & 2› machten es möglich: Trotz coronabedingter Einschränkungen waren drei Aufführungen mit je etwa 400 Zuschauenden im Juli am Goetheanum möglich – in dieser Zeit in Europa eine Besonderheit, wenn nicht einzigartig.
Nach der unbestimmten Lage im Mai stand nach der ersten staatlichen Lockerung für Stefan Hasler als Intendant fest: «Wir spielen!» Auf diesem Kurs war auch während der Corona-Zeit das Ensemble: In Einzelproben und Sonderschichten arbeitete das 70-köpfige Team auf und hinter der Bühne auf dieses Ziel hin. Am 10. Juli war es dann so weit: die Premiere!
Erstmals am Goetheanum gab es eine auf neun Stunden komprimierte Fassung von ‹Faust 1 & 2›, erstmals war Mephisto auf drei Spielende und einen Eurythmisten verteilt, erstmals war mit auf der Bühne ein Sprechchor mit 30 Stimmen, erstmals war die Vereinigung von Faust und Helena, von Antike und Mittelalter mit Musik von Elmar Lampson als Singspiel integriert. Und: Erstmals hat nach Marie Steiner mit Andrea Pfaehler wieder eine Frau die Inszenierung in der Hand, mit Eduardo Torres an ihrer Seite für die Eurythmie.
Bejahen
Was die Regisseurin mit dem Wort von Christian Morgenstern als inneres Motiv der Inszenierung ausgab – «Liebt das Böse – gut» –, das zog sich durch die Probenzeit und war auch auf der Bühne zu sehen. «Ich kenne 30 Jahre den ‹Faust›, aber diesmal habe ich erst verstanden, dass im Kerker der Himmel schon da ist», so eine erfahrene Eurythmistin.
Zum integrativen Stil der Inszenierung gehörte, dass die Aufführungen jeweils von einem Lebensgebiet einer Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum umrahmt wurden: Das waren die Frage nach einer menschlichen Medizin heute, nach neuem Umgang mit Besitz und die Frage, wie eine Kultur aussehen sollte, die uns hilft, Mensch zu werden. So aktuell diese drei Felder sind und die Anthroposophie zu ihrer Beantwortung einen Beitrag zu leisten vermag, so scheint auch Johann Wolfgang Goethes ‹Faust› im Goetheanum in die Zeit jetzt zu gehören. Die nächste Aufführung am vorletzten Oktoberwochenende wird voraussichtlich wieder in einem vollen Saal mit fast 1000 Zuschauenden stattfinden dürfen.
Kindheit sei heiliges Ja-Sagen, erklärt Friedrich Nietzsche, der in ‹Jenseits von Gut und Böse› viel über die dramatische Kunst nachgedacht hat. Dieses Ja-Sagen prägt den Inszenierungsstil von Andrea Pfaehler, indem sie die Spielenden zu ihrem Sosein befreien will. Dieses Ja-Sagen gehört auch zu Eduardo Torres und hat den ‹Faust› am Goetheanum verjüngt und – wie nicht wenige beobachteten – die Atmosphäre des Großen Saals im Goetheanum jünger werden lassen. Dazu trägt bei, dass Andrea Pfaehler seit acht Jahren mit Jugendlichen unter dem Label ‹Junge Bühne› jährlich 2000 Zuschauende ans Goetheanum bringt.
In der Krise den Kopf heben
In den Podiumsgesprächen mit den Verantwortlichen der Bühne und den Vortragenden häuften sich drei Rückmeldungen zur Inszenierung: Das Bühnenbild und -licht sind imaginativ, die Eurythmie ist frisch, die Sprache verständlich – und der Dank, dass dieses gemeinsame Kulturereignis – in dieser Fülle und Größe europaweit wohl nur selten – möglich ist. Dieser ‹Faust›-Sommer erinnerte mich daran, wie sehr der Ort Goetheanum, wie sehr wir selbst Theater, großes Theater brauchen. Warum? Weil uns Theater zeigt und beibringt, in der Krise den Kopf zu heben.
Web Faust