Die Wirksamkeit der Anthroposophie

Die Wirksamkeit der Anthroposophie

18 April 2024 Peter Selg 166 mal gesehen

Gerhard Kienle (1923–1983), Begründer des Gemeinschafts­krankenhauses Herdecke und der Universität Witten/Herdecke, war in Politik und Kultur ebenso engagiert wie in der Anthroposophischen Gesellschaft. Das war ein Spagat, der nach Kienle keiner sein sollte und auch heute ein scharfes Licht auf den Selbstbezug in der Anthroposophischen Gesellschaft wirft.[1]


In einem Brief schrieb Kienle im Juli 1954 über seine Arbeit in der Tübinger Universitätsnervenklinik (unter Prof. Ernst Kretschmer): «Es wissen alle, dass ich Anthroposoph bin, ich mache keinen Hehl daraus, aber alle respektieren es in positiver Weise.»[2] In einem Rundbrief an seinen Freundeskreis, der ein erstes anthroposophisches Gemeinschaftskrankenhaus vorbereitete, hatte er drei Jahre zuvor, im August 1951, formuliert: «Aber nur eine neue Klinik zu bauen, damit zu den vielen anderen noch eine weitere dazu kommt, kann man ja nicht für berechtigt halten. Jede neue Institution ist nur berechtigt, wenn sie Ausdruck eines neuen Impulses ist, wenn menschlich ein Schritt vorangegangen worden ist. […] Dafür, dass man eine andere Medizin machen will als die anderen, kann man noch eine gewisse mitleidige Toleranz erwarten, ebenfalls, wenn man eine Klinik für Menschen macht, die die Bedürfnisse nach Anthroposophischer Medizin vonseiten bestimmter Kreise befriedigen soll – man kann aber keine andere Toleranz erwarten, als man sie Indianern gegenüber in ihren Reservaten hat. Eine solche Toleranz hat immer einen sentimentalen Charakter. In dem Augenblick [dagegen] wird dies anders, in dem man sich in die Probleme irgendeines Gebietes hineinstellt und gewillt ist, auf alle persönlichen Gemütsbedürfnisse zu verzichten und sich ganz für die Lösung der Probleme einsetzt, aber nicht indem man in Lösungen missioniert, sondern indem man die Konsequenzen aus den Fragen zieht. Ein solcher Idealismus wird überall sofort verstanden und respektiert. Dann wird auch durchaus respektiert, dass man in Konsequenz anthroposophische Ideen vertritt, selbst wenn sie den anderen unverständlich sind. Sobald man sein Schwergewicht auf die Fragen legt und die anthroposophischen Ideen nicht als dogmatische Voraussetzungen, sondern als Konsequenzen vertritt, wird man menschlich verstanden und akzeptiert! […] Das ist eine durchgehende Erfahrung von mir: Man kann die spirituellsten Dinge hinstellen, sie brauchen gar nicht verständlich zu sein, sie müssen aber im sachlichen Idealismus grundsätzlich gerechtfertigt sein, dann werden sie auch von Menschen, die anderer Meinung sind, grundsätzlich anerkannt.»[3] In genau dieser Weise, wenn auch auf seine Art, war Rudolf Steiner vorgegangen – er hatte sich den konkreten ‹Problemen› von Lebensgebieten (von der Medizin bis zur Landwirtschaft und Ökonomie) gestellt und ‹Konsequenzen› aus den Fragen gezogen; er hatte nicht ‹in Lösungen missioniert›, sondern einen ‹sachlichen Idealismus› praktiziert – wie sich in seinem Lebenswerk umfänglich und detailliert aufzeigen lässt, wenn man sich wirklich die Mühe macht, es zu studieren.[4]

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1€ kennenlernen.

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Titelbild Gerhard Kienle

1. Vgl. Peter Selg: ‹Gerhard Kienle 100 Jahre› Das Goetheanum, Heft 46/2023, S. 22–25. Damals war ein Fortsetzungsessay über Kienles Beziehung zur Anthroposophischen
Gesellschaft angekündigt, was jetzt geschieht.
2. Zit. n. Peter Selg, Gerhard Kienle. Leben und Werk. 1. Band. Dornach 2003, S. 222.
3. Ebd., S. 193 f.
4. Vgl. u. a. Peter Selg, Rudolf Steiner. 1861–1925. Lebens- und Werkgeschichte. Sieben Bände. Arlesheim 2017.