Die zwei Masken

Die zwei Masken

15 Juli 2023 Nathaniel Williams 1831 mal gesehen

Der Generationswechsel scheint sich zu beschleunigen. Doch die Jugendbewegungen der Vergangenheit sind von den heutigen nicht so weit entfernt. Nathaniel Williams über die Narrative und Masken, die in den 1960er-Jahren abgelegt wurden, und jenen, die von der heutigen Jugend aufgesetzt werden.


In den 1950er- und 1960er-Jahren fühlten sich junge Menschen in den USA dazu gedrängt, eine neue spirituelle Orientierung im Leben zu finden, die irgendwie mit dem übereinstimmte, was sie für sich selbst empfanden. Sie fühlten sich durch die Erwartungen in ihre gesellschaftliche Integration und die Teilhabe an der Generation ihrer Eltern und Großeltern eingeschränkt. In deren Lebensmittelpunkt hatte zumeist die Kirche als soziales und spirituelles Zentrum des gesamten Lebens gestanden. Doch die Jugend erlebte diese Kultur nicht als authentisch, sondern als irgendwie leer. Etwas Zentrales schien zu fehlen. Auf der Suche nach authentischer Begegnung stießen sie nur auf ‹Masken›. Aber sie suchten nach unmittelbaren Erfahrungen von Spiritualität, miteinander und mit sich selbst. Es war die Zeit der ‹Rights Revolution›1, als die Bedeutung der Rechte in den USA eine ganz neue Färbung annahm. Die neue ‹Sprache der Rechte› verlangte, dass das Handwerk des Juristen von einem Gefühl der Ehrfurcht durchdrungen wurde. Nicht nur im juristischen Diskurs, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens zeigte sich diese neue Färbung. Zu finden ist sie zum Beispiel in der Kunst von Helen Frankenthaler und Joan Mitchell, in der Poesie von Mary Oliver und Wendell Berry oder sogar in der Musik von Bob Dylan, Joan Baez und Joni Mitchell. Das Interesse an anderen Kulturen, Orten und auch an anderen Zeiten stieg damals explosionsartig an. Die spirituellen Traditionen der amerikanischen Indigenen waren für viele in den Vereinigten Staaten von besonderem Interesse, aber auch die spirituelle Kultur Indiens und Japans. Der große Wunsch war, dem spirituellen Diskurs in den USA Immanenz zu verleihen.

Heute leben wir Erwachsenen inmitten einer Welt, die stark von diesen gegenkulturellen künstlerischen, politischen und spirituellen Bewegungen der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre beeinflusst ist. Wir nehmen sie als selbstverständlich. Die ‹Revolution der Rechte› war so erfolgreich, dass Unternehmenslobbygruppen im Jahr 2010 in Amerika vor dem Obersten Gerichtshof erfolgreich für eine Deregulierung der politischen Spenden auf Bundesebene plädierten, indem sie diese als Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellten. Doch für heutige junge Menschen, die mit der digitalen Revolution aufgewachsen sind, fühlen sich diese Bewegungen einerseits vertraut und andererseits weit entfernt an. Das hängt mit der zunehmenden Lebensweltgestaltung der digitalen Revolution zusammen. Junge Menschen integrieren diese Technologien ganz selbstverständlich. In diesen digitalen Räumen erstellen sie Avatare von sich selbst, sei es als Profil auf Facebook oder in einer Figur im Videospiel. Heute taucht eine andere ‹Maske› auf, die nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft stammt. Sie entsteht als Teil unserer neuen Technologie. Und sie wird sicherlich weiter wachsen und sich entwickeln. Diese Maske setzen wir auf, verbergen uns also hinter ihr, wenn wir einen anderen Menschen treffen. Sie hat in den Profilen der sozialen Medien, in den Charakteren der Computerspiele fast eine vom Erstellenden unabhängige Existenz angenommen.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen.

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Titelbild Menschenmenge während des Marsches auf Washington 1963, in Washington. Das Foto wurde von einem der Fotografen des ‹U.S. News & World Report› aufgenommen.