Ein Buch, das dir Boden schenkt

Ein Buch, das dir Boden schenkt

09 September 2025 Wolfgang Held & Karin Michael 23 mal gesehen

Die Jahrestagung der Medizinischen Sektion widmet sich Rudolf Steiners Buch ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen›. Wolfgang Held sprach über dieses medizinische Spätwerk von Rudolf Steiner mit Karin Michael, Co-Leiterin der Medizinischen Sektion.


‹Grundlegendes›, wie es verkürzt häufig genannt wird, ist das einzige Buch, das Rudolf Steiner in Co-Autorenschaft geschrieben hat – oder?

Karin Michael: Ich kenne kein anderes. Mir zeigt es, dass es Rudolf Steiner bei diesem Buch wesentlich war, im Dialog mit jemanden aus dem Berufsfeld zu sein. Er brauchte ein Gegenüber, das die Praxis der Medizin erlebt, tätig darinsteht. Mit Ita Wegman hatte er das. Hinzu kam Ehrenfried Pfeiffer, den er, was die naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Zeit anbelangt, immer wieder zurate gezogen hat. Es war Ita Wegman, die Rudolf Steiner 1923 in Penmaenmawr nach einer Erneuerung der Mysterien gefragt hatte. Und diese Frage begründete dann wohl die Zusammenarbeit, die zu dem Buch geführt hat. Mir wird zunehmend deutlich, dass dieses Buch eigentlich ein Mysterienbuch ist. Wenn man sich allein die Tatsachen anschaut, wie sehr das Buch eine Zahlenkomposition ist, wie genau die Worte an ihrem bestimmten Platz stehen und auch wie die Ordnung der Absätze zu uns spricht.

Hast du ein Beispiel?

Ja, ein Lieblingsbeispiel von vielen, die sich mit dem Buch beschäftigen, ist, was in der Mitte des Einführungskapitels steht: «Es ist von der allergrößten Bedeutung, zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.» Diese Doppelnatur des Ätherleibes im Blick zu haben, darum geht es in der Anthroposophischen Medizin, so Rudolf Steiner. Was uns zum wachen, denkenden Menschen macht, das sind die gleichen Kräfte, die unseren Leib aufbauen, regenerieren und ausbilden. Das eröffnet für mich als Kinder- und Jugendärztin einen großartigen Blick auf die kindliche Entwicklung: wie hier Kräfte sich transformieren. Wenn ein Wachstumsschub geschieht, spiegelt sich das in einer schwindenden Beziehung zur Außenwelt. Ist der Schub vollendet, entfalten sich neue Wahrnehmungsarten und neues Denkvermögen. Ganz herausragend ist hier die Schulreife.

Es geht um eine Erweiterung der naturwissenschaftlich bis dahin etablierten Medizin, und die Methoden zu dieser Erweiterung führt Rudolf Steiner im ersten Kapitel noch einmal aus: Imagination, Intuition, Inspiration.

Die Doppelnatur des Ätherischen ist dann Thema des Eröffnungsvortrages bei eurer Tagung. Ist dieser Gedanke so wichtig?

Ja, für die Medizin ist er entscheidend. Jeder, der schon mal Kartoffeln verdaut hat, weiß, dass sich das Denken dabei verändert. Und es gibt ein pathologisches Maß. Denken und Leben sind wie zwei Seiten einer Medaille. Im Extremen zeigt sich das, wenn wir in einer Krankheit oder im Schmerz Mühe haben, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Der ganze Organismus wird ein ‹auf den Zeh gefallener Hammer› in dem Moment, wo der Schmerz so präsent ist. Letztlich handelt es sich im Heilen um das harmonische Verhältnis der vier Glieder unserer Existenz: physischer, ätherischer und astralischer Leib und das Ich. Dabei ist der Ätherleib der Vermittler der Regulation. Von ihm aus müssen wir heilen. Das sind die Kräfte, die eine Wunde schließen, und das sind die Kräfte, die wir dem Geistigen zur Verfügung stellen können, wenn wir sie aus dem Körperlichen befreit haben.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.


Illustration Fabian Roschka