Ein je konkreter Mensch

Ein je konkreter Mensch

24 Mai 2023 Hans-Christian Zehnter 1507 mal gesehen

Es sind Nationen, die in den Krieg ziehen. Ein nationales Denken hat die Negierung des Individuums und die Rekrutierung von Massen als Anlage in sich. Was überwindet heute das ‹Volksgötterzeitalter›? Der Geist unserer Ichheit schafft es, Menschen zur Menschheit zu führen.


Der Maßstab einer Ethik im 21. Jahrhundert ist das Individuum, dieser Mensch – nicht die Masse. Die Masse von Soldaten, eine Armee, ist ein Fehlmaßstab und eine Missachtung des Individuums. Im Ersten Weltkrieg wurden die Rekrutierungszahlen in die Höhe getrieben. Die Entente setzte knapp 42 Millionen und die Mittelmächte fast 24,5 Millionen Soldaten ein. Am Ende dieses Ersten Weltkrieges waren 17 Millionen Tote zu verzeichnen. An der Front zählte die Masse. Daheim geliebte Persönlichkeiten starben wie die Fliegen im Schicksal des anonymen Soldaten. Der Ort des Individuums ist die überschaubare soziale Gemeinschaft. Das war früher die Familie, heute vielleicht noch das ‹Zuhause›: das Lebensumfeld, in dem ich mein Schicksal auszuleben versuche, Beruf, Partner, Kinder, Hobby, Garten. In dieser Gemeinschaft werde ich durch die anderen zum Individuum. Ihre Anerkennung holt mich aus der Anonymität der Menschenmasse heraus. In dieser Gemeinschaft wurden die anonymen Soldaten zu Vermissten. An der Front waren sie einer von unfassbar vielen, der durch einen Nachrückenden möglichst bald zu ersetzen war. In der Gemeinschaft zu Hause eine klaffende Lücke, die nicht mehr gefüllt werden konnte; unersetzlich. Diese Lücke muss uns selbst durch und durch als ganzen Menschen erfassen, muss uns zu Herzen gehen – erst dann werden wir dieser individuellen, unersetzbaren Lücke gerecht, und auch einer Ethik des Individuums.

Eine Szene aus dem Film ‹Die Kinder des Monsieur Mathieu›: Der kleine Pépinot wartet 1949 vor dem Internat darauf, dass ihn sein Papa abholen werde. Aber nicht nur der Vater, auch seine Mutter waren im Krieg umgekommen. Auf immer wird dieses Kind auf seine Eltern warten – eine ewig stumme Lücke wird bleiben, eine Unerfülltheit, ein Sehnen, das nur hier auf Erden erfahrbar ist: die sinnlich-leibliche Gegenwart der geliebten Seelen. Die Rührung dieser Szene senkt sich zum Ende des Filmes noch tiefer ins Herz – und erst in dieser Herzenstiefe findet sich der Ort einer Ethik des Individuums. Pépinot entschließt sich, dem aus dem Internatsdienst ausscheidenden Monsieur Mathieu zu folgen und ihn zu seinem Vater zu nehmen. Die kleine Hand des verwaisten Kindes in der großen Hand des neuen Vaters. Ein Neubeginn aus der freien Tat zweier liebender Seelen, die sich gegenseitig überantworten durch diese individuelle Tat.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen.

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Titelbild Die weißen Gräber gefallener Soldaten aus dem Weltkrieg 1914–18 auf einem belgische Soldatenfriedhof in Westflandern. Foto: CC0 Public Domain.