Ukraine: Es geht um die Mitte

Ukraine: Es geht um die Mitte

01 März 2022 Yaroslava Black-Terletska 2793 mal gesehen

Ein Gespräch mit Yaroslava Black-Terletska, gebürtige Ukrainerin und Priesterin der Christengemeinschaft in Köln, über den Krieg in ihrem Land. Das Gespräch führte Wolfgang Held.


Vor drei Tagen hat Russland seine militärische Invasion in der Ukraine begonnen. Was denken, fühlen Sie?

Yaroslava Black-Terletska Ich bin sehr betroffen. Ich höre häufig, dass die Ukraine ein junges Gebilde sei, in dem sich der Staat noch finden müsse. Das stimmt, wenn man mit dem Verfall der Sowjetunion die Geschichte beginnen lässt. Hebt man den Blick und schaut weiter, dann ist die Ukraine ein uraltes Gebilde. Die Kiewer Rus war ein uraltes Großreich, aus dem später die Ukraine, Russland und Belarus hervorgingen. Es musste sich behaupten gegen die Mongolen, die Tataren, musste gegen alle möglichen Völker sich bewähren, weil es immer wieder angegriffen wurde – auch von seinen Nachbarvölkern wie Polen oder Deutschland. Es hieß zu kämpfen, um sich zu schützen und sich so selbst zu finden. Aber das ist Vergangenheit! Dass jetzt erneut so ein Überfall über unser Land kommt, dass so etwas geschieht, das ist nicht nur menschlich eine Katastrophe, sondern auch historisch. Es ist einfach nicht mehr an der Zeit. Es fühlt sich an, als würde das letzte, das vorletzte Jahrhundert auferstehen. Deswegen fühlen viele Menschen in der Ukraine und nicht nur dort, dass es falsch ist. Ganz falsch ist – unabhängig davon, was man jetzt denkt über Russland, über die Ukraine, über Europa, über die EU, über die NATO. Ganz jenseits all dieser Debatten ist es grundsätzlich falsch. Es gehört nicht in unser Jahrhundert hinein. Ja, so fühlt sich das gerade an.

Ein Vergleich: Von niederländischen Freunden hörte ich, dass der Einfall der deutschen Wehrmacht 1940 in ihr Land so entsetzlich erlebt wurde, weil es der Bruder war, der das Land überfiel. Ist das für die Ukraine ähnlich?


Ja, das Empfinden ist schon ähnlich, denn genauso wie zwischen Deutschland und den Niederlanden gibt es auch zwischen Russland und der Ukraine sprachliche Nähe. Man hat als Nachbarländer nicht nur eine gemeinsame Geschichte, man fühlt sich auch auf der sprachlichen Ebene verbunden. Deshalb ist der Überfall so brutal.

Wie klingt für ukrainische Ohren das russische Narrativ bzw. die Kriegspropaganda, dass die Ukraine zu einem russischen Großreich gehöre und keine eigentliche Nation sei.


Das klingt ganz schlimm für ukrainische Ohren, denn wie schon gesagt, die Geschichte der Ukraine ist über 1000 Jahre alt. Wenn man aus einem Narrativ hier Ansprüche ableiten möchte, dann könnten auch die Norweger sagen, dass sie als Wikinger-Gründer hier das Recht haben, die Ukraine als Teil ihres Landes zu sehen. «Wir haben das einmal erobert und wir haben unsere Fürsten und Könige auf den russischen Thron, den Thron von Rus gesetzt, also gehört das Land uns. Doch den Schweden oder Norwegern kommt das zum Glück nicht in den Sinn, jetzt nach Kiew einzumarschieren. Die Geschichte ist so reich! Viele Völker haben an dem Staat Ukraine mitgebaut, viele Völker haben mitgemischt, im Schlechten wie im Guten. Hätten solche historischen Narrative heute noch Gültigkeit, dann könnte Polen sich die Westukraine nehmen, denn Galizien war auch die Heimat des polnischen König Johann Sobieski und er hatte dieses Gebiet eine Zeit als Polen-Litauen unter sich. Auch Österreich könnte aufstehen und sagen, dass man etwas von der westlichen Ukraine beanspruche, weil in der österreichisch-ungarischen Monarchie unter Kaiser Franz Joseph die Westukraine sehr beliebt war. Unser Kaiser hat mit Eisenbahn und guten Straßen die Westukraine erschlossen, in die Kultur investiert. Ja, wo sollen wir anfangen und wo sollen wir enden?

Dieser Text ist ein Auszug aus einer Vorpublikation der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›. Sie können den vollständigen Artikel auf der Website der Wochenschrift lesen.

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Bild Aussicht vom Volodymyrska Girka auf Kiew und den Fluss Dnjepr in 2019, Foto: Robert Anasch