Faustischer Aufstieg aus faustischem Abgrund
Zur ‹Faust›-Inszenierung der Goetheanum-Bühne gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen. Als Kunstwerk spricht sie für sich. Was ich stattdessen tun möchte, ist, eine Blickrichtungsänderung vorzuschlagen: Blicken wir nicht auf Faust auf der Bühne, sondern schauen wir auf uns selbst als Faust oder Faustin, als eine Person, die diesen faustischen Pakt unterschrieben hat. Wie Faust kommen wir aus diesem Kontrakt nicht mehr heraus. Und doch meine ich, sind im Drama drei Perspektiven zu finden, was ich am Schluss darstellen werde.
Wir haben alle einzeln unterschrieben und wir haben auch kollektiv unterschrieben. Es lohnt sich zu erinnern, wann man in seinem Leben diese faustische Unterschrift getan hat, den Pakt mit Mephisto unterzeichnet hat. Wir stehen individuell und gesellschaftlich mit Faust am aktuellen Wendepunkt der Moderne. Das ist mein Ansatz: Die Moderne als Ganzes ist das faustische Projekt, bei der jeder Mensch sich auf die Spitze seiner Persönlichkeit stellt, um von diesem Punkt aus in der Welt tätig zu sein. Auf dem Weg in diese Souveränität der Persönlichkeit gibt es Wegmarken und eine ist die kopernikanische Revolution. Galileo Galilei beobachtet im Fernrohr (1633), dass Venus wie der Mond eine Sichelform zeigt, und schließt daraus, dass Venus sich mit der Erde um die Sonne drehen muss. Es ist einer der Quellpunkte der Moderne, dass das göttlich erhabene, in sich ruhende Weltbild, wo wir Menschen einen klar zugewiesenen Platz innehaben, in ein dynamisches Weltbild übergeht. René Descartes’ Feststellung nur ein paar Jahre später (1637) «Ich denke, also bin ich» ist der philosophische Schluss auf diesem Weg der Selbstermächtigung: Das Denken begründet die Existenz! Ähnlich erklärt Kant (1784), was diese Epoche ausmacht: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Jetzt ist das Denken handlungsleitend geworden und baut den Grund des ethischen Universalismus hin zur Formulierung der Menschenrechte. Dorthin mündet auch Goethes ‹Faust›, wenn der hundertjährige Faust dem Sumpf an der Küste fruchtbares Land abtrotzt und von «freiem Grund für freies Volk» träumt. Nicht anders formuliert es der 25-jährige Rudolf Steiner: «Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen […]. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.»
Die Aufklärung vollendet sich
Wir stehen an einem Punkt der Menschheitsentwicklung, wo das Schicksal der Welt aus uns Menschen geboren werden muss. Zur anthroposophischen Anschauung gehört dabei, dass das ein co-kreatives Mittun ist, eine Schöpfung aus dem Humanen aus dem Anthropos heraus. So vollendet sich die Aufklärung, ein Weg, der uns heute zu einem Wendepunkt der Moderne führt. Hierfür möchte ich drei aktuelle Autoren aus Soziologie, Politologie und Philosophie anführen:
- Bruno Latour, ‹Das terrestrische Manifest› (2017). Er schreibt am Anfang des Buches: «Der Eindruck von Schwindel, fast Panik, der die ganze gegenwärtige Politik durchzieht, rührt daher, dass gleichzeitig der Boden unter den Füßen wankt. So als fühlte man sich in all seinen Gewohnheiten und in all seinem Hab und Gut angegriffen.» Kennen Sie das? Am Schluss illustriert er humorvoll, wie fragwürdig schnelle Antworten sind: «Soll ich mich in die Permakultur stürzen, mich an die Spitze der Demonstration stellen, das Winterpalais stürmen, den Lehren des heiligen Franziskus folgen, Hacker werden, Nachbarschaftsfeste organisieren, Hexenrituale wieder einführen, in künstliche Photosynthese investieren oder wollen Sie etwa, dass ich die Spur von Wölfen aufnehme?»
- Ingoflur Blühdorn, ‹Unhaltbarkeit› (2024). Auch er schildert die Situation des faustischen Projektes der Moderne als ein Dilemma. Seit den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts hätten wir uns engagiert für eine ökologische und gerechte Welt und müssten jetzt feststellen, dass sich die Spätmoderne aus diesem Narrativ «emanzipiert» und dass uns gerade aus der gesellschaftlich politischen Situation etwas ganz anderes entgegenkommt. Bewegungen wie Occupy Wall Street oder Fridays for Future bringen eine kurze Renaissance, aber keinen Durchbruch. Vielmehr stehen spätmoderne Gesellschaften vor einem handlungspolitischen Vakuum. Wie ist es politisch gerade in Frankreich, Österreich oder den Niederlanden? Unsere Gesellschaften mit Pandemien, Ressourcenübernutzung, soziale Ungleichheit, Betreuungs- und Pflegenotstand, Klimaerwärmung, Digitalisierung, Migration etc. werden unregierbar. So die Analyse von Blühdorn.
- Paul Kingsnorth, ‹Against the Machine: On the Unmaking of Humanity› (2025). Der US-Bestseller beschreibt, dass wir als faustische Gesellschaft daran sind, uns Mephisto so hinzugeben, dass unser ganzes gesellschaftliches Leben zu einer Maschine wird und alles Menschliche infrage gestellt wird. Dabei referiert er Oswald Spenglers Buch ‹Der Untergang des Abendlandes› (1918), das Steiner 1920 gelesen hatte. Was die drei Autoren jetzt feststellen, hat Spengler schon damals beschrieben: dass dieses faustische Zeitalter, in dem wir leben, wahrscheinlich einem Niedergang entgegengeht. Steiner gab Spengler in seiner Analyse weitgehend recht, wehrte sich aber vehement gegen seine defätistischen Schlussfolgerungen.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
Textfassung des Vortrags an der Premiere der ‹Faust›-Inszenierung vom 10. bis 12. Oktober. Kurzfassung auch in ‹Anthroposophie weltweit›, November 2025.
Bild Aufnahmen ‹Faust 2025›, Foto: Laura Pfaehler
Faust 2026 10.–12. Juli, 17.–19. Juli, 25.–26. Juli 2026