Heilung bedeutet Berührung

Heilung bedeutet Berührung

13 Juli 2023 Matthias Girke & Georg Soldner 2035 mal gesehen

Die Jahrestagung der Medizinischen Sektion vom 12. bis 17. September widmet sich dem menschlichen Leib. Ein Gespräch mit Matthias Girke und Georg Soldner. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Der Leib ist uns das Nächste und zugleich das Fernliegendste – oder?

Matthias Girke
Es ist interessant, dass wir von einem ‹Unterleib› und einem ‹Oberkörper› sprechen. Daran zeigt sich mir, dass wir ganz unterschiedlich mit dem oberen und dem unteren Menschen verbunden sind. Mit dem Leib, dem Unterleib, haben wir eine tiefe seelisch-geistige Verbindung – auch im Willen, denn wir benutzen ihn für unser Tun. Im Oberkörper sitzt unser Bewusstsein. Es ist nicht einfach, die Knochen zu bewegen, die den Kopf zusammenfassen. Insofern ist der Widerspruch, dass unsere physische Grundlage einmal Leibcharakter und einmal Körpercharakter ausmacht, Teil unserer Physiologie. Einmal sind wir mit ihr mehr verbunden und das andere Mal sind wir ihr mehr entfremdet. Gerade dieses Entfremden vom Leib wollen wir an unserer Jahrestagung bearbeiten und die Brücke schlagen zur Idee vom Leib als Tempel des Ich. Dem steht heute gegenüber, dass wir den Körper als etwas Äußeres, zu Optimierendes verstehen.
Georg Soldner

Georg Soldner
Wir können versuchen, den Körper zu inszenieren, auch operativ zu verändern. Anders ist es beim Leib: Hier ist die Dimension gemeint, in der ich lebe. Es ist ein lebendiger Vollzug, aus dem ich nicht einfach heraustreten kann, sondern wir können mit Thomas Fuchs sagen: Den Körper kann man haben, aber wir leben im Leib. Wir haben in den letzten Jahrhunderten die Körperlichkeit unserer Existenz, an der wir ja auch Bewusstsein und Selbstbewusstsein entwickeln, immer mehr herausgearbeitet. Wir haben auch bewundernswerte medizinische Fähigkeiten entwickelt, den Körper beispielsweise nach schweren Verletzungen zu reparieren oder operativ zu behandeln. Gleichzeitig nehmen aber eben auch Autoimmunerkrankungen zu, Erkrankungen, in denen das, was wir unser Immunsystem nennen, was wir auch selbst sind, diesen Leib attackiert. Deshalb werden solche Erkrankungen uns an der Jahreskonferenz besonders beschäftigen.

Mich hat ein Wort des Christengemeinschafts-Priesters Anand Mandaiker berührt: Er sagt, dass sich die Heimatlosigkeit heute vom Kosmischen bis zum Geschlecht, bis zur Leiblichkeit spannt.

Girke
Thomas Fuchs nennt es die ‹Einhausung›. Ich finde es sehr interessant, dass der ehemalige Präsident der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft einen Artikel geschrieben hat über die Notwendigkeit einer Berührungsmedizin. Dabei bezieht er sich ebenfalls auf Thomas Fuchs, wie er Krankheit definiert: Aus einem Leib wird ein Körper, wird ein Gegenstand. Bei Schlaganfallpatienten ist das deutlich zu sehen: Wenn sie ihren Arm von einer Position in eine andere heben, dann ist das die Verkörperung aus dem Leiblichen. Umgekehrt heißt dann Gesunden im Sinne von Thomas Fuchs: ‹Verleiblichen des Körperlichen›, dass der Körper wieder zum Leib und Instrument des Menschen wird. Diese Berührungsmedizin spielt natürlich in der Anthroposophischen Medizin eine große Rolle, leiblich, seelisch, geistig, um ein Haus zu bilden für den Menschen. Die vielen Körpertherapien, die es gibt, haben diese Leibbildung zum Ziel. Wie kann ich mich verleiblichen und nicht nur verkörperlichen? Das ist die Frage, und was mich dabei immer sehr berührt, ist die Erfahrung, dass dieser Leib ganz individuell auf jeden Menschen zugeschnitten ist. Selbst bei eineiigen Zwillingen gelingt es erfahrenen Müttern und Vätern, einen Unterschied festzustellen. Also es gibt die Individuation im Leiblichen. Das, was wir als unverwechselbares und einmaliges Ich sind, bildet sich ab bis in diese leibliche Ebene. Das ist, wenn wir der Beschreibung Rudolf Steiners folgen, die Ichorganisation, die alles im Leib individualisierend durchwirkt. Also jede Gestaltung in diesem Leib ist Ergebnis der Ichorganisation, und insofern sind wir zu Recht intensiv mit diesem Leiblichen verbunden. Und gleichzeitig kann dieses Leibliche sich uns entfremden, wenn wir nicht mehr mit dem Leib verbunden sind und dann tatsächlich mit Erkrankungen zu tun haben, die häufiger werden, die interessanterweise häufig psychosomatische Ursachen haben und sich in den zunehmenden Autoimmunerkrankungen zeigen.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen.


Titelbild Gilda Bartel

Tagung Sich den Leib vertraut machen. Immunsystem und Autoimmunerkrankungen