«Ich verbinde mich mit Ihnen durch das Herz»

«Ich verbinde mich mit Ihnen durch das Herz»

27 April 2020 Laura Scappaticci 6352 mal gesehen

Die Anthroposophische Gesellschaft in Amerika nutzt seit 2016 digitale Räume, um sich trotz räumlicher Distanzen auszutauschen und an geistigen Fragen zu arbeiten (‹Anthroposophie weltweit› Nr. 6/2019). Zu ihrer Erfahrung gehört, der Kühle der Technologie mit einer Durchwärmung des Raumes zu begegnen – wie sonst bei der Pflege ritueller Orte.


Sebastian Jüngel Sie haben bereits 2016 erstmals Online-Gespräche angeboten. Fühlen Sie sich jetzt als Pionierin?

Laura Scappaticci
2016 begann die Anthroposophische Gesellschaft in Amerika, Bildungsangebote online für ihre Mitglieder und Freunde zu erkunden. Es wurde deutlich: Um Anthroposophie mehr Menschen zugänglicher zu machen – nämlich denen, die fernab von den Zweigen leben, berufstätigen Eltern und jungen Menschen –, müssen wir konsequent Inhalte online anbieten, einschließlich Webinare, Tagungen und Podcasts. Inzwischen haben wir über 25 Webinare auf unserer Website und einen Podcast mit internationaler Reichweite. Eine vollständig online zugängliche Konferenz fand von 17. bis 19. April statt.

Wärme in digitale Räume bringen

Unsere Reise in die Online-Welt erfolgte mit Bedacht und von Warnungen von einigen unserer Mitglieder begleitet. Wir wussten, dass Erreichbarkeit und Gemeinschaftsbildung für die Zukunft der Anthroposophie wichtig sind. Das Bewusstsein für die Risiken und die spirituellen Aspekte der Arbeit mit Technologie bereiten uns Anthroposophen bestens darauf vor, mit dieser neuen Form auf achtsame Weise zu experimentieren und Wärme in kalte technische Räume zu bringen. Aus diesem Grund und wegen der hunderten von Menschen aus der ganzen Welt, die sich uns anschließen, um Anthroposophie online zu erarbeiten, sehen wir unsere Gemeinschaft als Pioniere. Beim Auftreten von Sars-CoV-2 waren wir sogar bereit, unsere April-Tagung ‹Sacred Gateway› über Tod und Sterben in die erste vollständig online durchgeführte Tagung umzuwandeln.

Begegnung über Zeit und Raum hinaus

Jüngel Am 23. März nahmen über 325 Menschen online teil. Was ‹funktioniert› gut?

Scappaticci
Wir haben herausgefunden, dass es einiges gibt, was online gut geht, und anderes, was noch erforscht werden muss. Zum Beispiel können wir den Raum ‹erwärmen›, indem wir in jedem unserer Häuser eine Kerze anzünden; wir können ein Gefäß für den Geist schaffen, indem wir einen Spruch und eine Passage von Rudolf Steiner lesen. Wir stellen Gruppenräume für den persönlichen Austausch bereit. Diese Kleingruppen scheinen der am meisten geschätzte Teil unserer Online-Zeit zu sein, und die Menschen wollen gern mit denen in Verbindung bleiben, denen sie gerade begegnet sind.

Wir arbeiten an der Peripherie mensch­licher Beziehungen: Wir können einander sehen, aber wir können einander nicht berühren. Wenn ich Ihnen das Gefühl vermitteln möchte, dass ich Ihnen in die Augen schaue, blicke ich in eine Kamera anstatt auf Ihr Bild, und ich verbinde mich mit Ihnen über mein Herz. Dieses Verständnis von Zeit, Raum und unseren Beziehungen, die über die physischen Grenzen hinausgehen, ist den Anthroposophen seit jeher vertraut, schätzen wir doch die Verbindung zu geis­tigen Wesen und zu den Verstorbenen, also jenen, die wir nicht über unsere physischen Sinne berühren können.

Jüngel
Wo liegen die Grenzen?

Scappaticci
Wir lernen noch. Wir sind ständig auf der Suche nach dem, was sich in digitalen Räumen richtig anfühlt. Klassenstunden der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft sind eine Schwelle, die wir wegen ihres esoterischen Gehalts nicht überschreiten sollten.

Auf neue Weise lebendig

Jüngel Wie hat das Coronavirus die anthropo­sophische Arbeit in den USA verändert?

Scappaticci
Zweige können sich nicht treffen, Waldorfschulen sind geschlossen, Klassenstunden fallen aus. Zur selben Zeit geschieht etwas sehr Positives: Immer mehr Menschen ergreifen die Initiative und organisieren Lese- oder ‹Übe›-Gruppen ‹auf Distanz› – online oder telefonisch. Eine Gruppe an der Ost­küste verabredet sich jeden Tag für 15 Minuten, um gemeinsam die Nebenübung zur Gedankenkontrolle zu machen. Eine Gruppe an der Westküste trifft sich jeden Freitag, um von Ärzten, Krankenpflegern und weiteren Mitgliedern geteilte gesundheitsfördernde Maßnahmen zu diskutieren. Dies geschieht im ganzen Land und beweist, dass das Herz unserer Bewegung kein ‹social Distancing› betreibt. Vor diesem Hintergrund ist die Anthroposophie in den USA in dieser herausfordernden Zeit auf neue Weise lebendig geworden.


Wärme in digitalen Räumen

1. Machen Sie eine Meditation, die auf das Herz gerichtet ist. Die Wärme-Meditation stärkt die Liebe und ihre Offenheit, was der ‹Kühle› des Computers entgegenwirkt. (Siehe Peter Selg: Die ‹Wärme-Meditation›).

2. Verbinden Sie sich jeden Tag mit der Natur und den Sternen. Es ist so einfach, sich von der Arbeit am Computer und vom Checken des Smartphones vor dem Schlafengehen zu lösen. Nehmen Sie sich die Zeit, um einen Baum zu betrachten, den Vögeln zuzuhören und mit den Sternen zu sprechen.

3. Schaffen Sie auch dann eine rituelle Atmosphäre mit Kerzen und Sprüchen, wenn Sie online spirituelle Inhalte austauschen. Beginnen Sie mit dem ‹Anthroposophischen Seelenkalender› von Rudolf Steiner, um das Bewusstsein für die Jahreszeit sowie für Raum und Zeit, in denen Sie gerade sind, zu wecken. Studieren Sie eine Passage von Rudolf Steiner, lesen Sie ein Gedicht, und tun Sie das alles rhythmisch.

Aus dem Englischen von Sebastian Jüngel.