Im Gespräch erwacht die Seele

Im Gespräch erwacht die Seele

11 Februar 2023 Wolfgang Held 1444 mal gesehen

Vor 5000 Jahren lenkte göttlicher oder königlicher Wille die Seele, waren Wille, Gefühl und Denken aus dem Umkreis bestimmt. Mit der Geburt der Persönlichkeit wurde die Seele zum Punkt, verlor die Beziehung und gewann sich selbst – und heute?


«Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.»(1) Das schreibt Marie von Ebner-Eschenbach und gibt damit für den Jahresanfang einen Hinweis. Vermutlich wird das neue Jahr nicht weniger Überraschungen, nicht weniger Wandel und Brüche bereithalten als das vergangene. Bei jedem solchen Ruck vermag die Seele darin einen Todeskampf oder eine Geburtswehe sehen. Was häufig geschieht, ist, dass sich überhaupt kein tatsächliches Gefühl einstellt und sich dafür eine Grundstimmung der Seele bemächtigt. «Es wird eh alles schlimmer.» Ein Reflex, bei dem die Seele nicht fühlt, sondern sich in ein Stimmungsmuster einrastet. Heinz Bude hat darüber ein Buch geschrieben: ‹Das Gefühl der Welt – über die Macht der Stimmungen.› Darin zeigt er, wie heute wenig bewusste Stimmungen Empfindung und Urteil einseitig färben. Um hier frei zu werden, lohnt es sich, einen Dreischritt der seelischen Entwicklung zu verstehen. Dazu eine Beobachtung vom andern Ende der Welt: Mit einer Reisegruppe stand ich am Fuß der Anden in der Atacamawüste. Die Morgensonne im Rücken, schauten wir auf das Naturschauspiel: Die majestätischen Fünftausender glühten rot, während der Fuß des Gebirges im Dunst in unwirklichem Blau schimmerte – als würde Feuer auf Wasser schwimmen, so sah das gewaltige Naturschauspiel aus. Da murmelte jemand im Angesicht der Farberscheinung: «Gut gemacht!» und brachte so die heutige Entfremdung zum Ausdruck. Selten wurde mir das Fremdsein deutlicher, mit der wir Menschen heute nicht mit ‹in› der Welt, sondern vielmehr auf sie blicken. Nicht anders, als wenn man auf den Bildschirm des PCs blickt, ist die Welt ganz allgemein entrückt und vermag kaum Gefühle in der Seele zu wecken. Wie anders war das in früheren Zeiten, in der Kindheit der Menschheit. Davon erzählen die Mahnworte des Ipuwer, eines ägyptischen Dichters und Arztes(2) der um 2000 v. Chr., als in Ägypten alles drunter und drüber ging, sein Herz ausschüttete. Ausschnitte aus der langen Klage:

Wahrlich, die Gesichter sind bleich
Wahrlich, die Herzen sind gewalttätig, Pest geht durchs Land
Wahrlich, die Menschen sehen aus wie Trauervögel
Wahrlich, die Welt dreht sich wie eine Töpferscheibe
Wahrlich, die Krokodile sind satt von ihrem Fang, die Menschen gehen aus freien Stücken zu ihnen!
Wahrlich, die Wüste ist durch Ägypten ausgebreitet
Wahrlich das Lachen hat aufgehört, man tut es nicht mehr
Wahrlich, man wird taub von dem Lärm
Wahrlich, Groß und Klein sagen: «Ach wäre ich tot!»
Oh gäbe es doch ein Ende mit den Menschen, kein Empfang mehr und keine Geburt
Dann wäre die Welt frei von Lärm und ohne Streit.

Gefühl vor 4000 Jahren! Was man um sich herum erlebt, das spiegelt die Seele 1:1. Wir leben ‹in› Gefühlen. Es ist die in der Anthroposophie beschriebene ‹Empfindungsseele›, in der die Seele zum Spiegel des Äußeren wird. Wie anders zeigt sich dann im antiken Griechenland und Rom das Gefühlsleben.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen.

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Titelbild Jasminka Bogdanovic, ‹Horizonte› (Auschnitt), 2017 Tempera auf Leinwand, ca. 180 × 80 cm