Im Werden sich nahe sein
Beim Namen Rudolf Steiner denken Anthroposophen vermutlich zuerst an seine Werke oder Taten. Nicht-Anthroposophinnen denken, wenn es halbwegs gut läuft, an einen schrägen Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ganz nachvollziehbare Weltbildkonzepte in die Wirklichkeit goss. Welche Möglichkeiten, ihm zu begegnen, gibt es noch? Und wie könnte eine neue Nähe zu ihm möglich werden? Ein Gespräch mit Martina Maria Sam, die die kleinen Lebenstatsachen des Menschen Rudolf Steiner besonders im Bewusstsein trägt. Die Fragen stellte Gilda Bartel.
Du hast einen anderen Bezug zum Menschen Rudolf Steiner, weil du dich so viel mit ihm beschäftigt hast. Wie sieht dieser Bezug aus?
Rudolf Steiner ist mir wirklich als Mensch nähergekommen, als Werdender, als Sich-Entwickelnder. Und ich habe durch das Eintauchen in seine Biografie auch vieles von meiner persönlichen Entwicklung neu verstanden. Am stärksten wahrnehmbar war das für mich bei der Beschäftigung mit seiner Kindheit und frühen Jugendzeit. Auch wird mir immer deutlicher, wie unglaublich vieles von dem, was er später in Vorträgen als Beispiele erzählt, autobiografisch ist, Selbsterlebtes ist.
Dann könntest du wissen, wo Rudolf Steiner zum Beispiel Selbstzweifel hatte?
Ob man sagen könnte, dass er Selbstzweifel hatte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hatte er eine Krise in der Mitte seiner Dreißigerjahre. Zum einen war ihm damals nicht ganz klar, wie sein beruflicher Weg weitergeht. Zum anderen realisierte er erst in dieser Zeit ganz deutlich, dass er nicht so in der Welt steht wie andere Menschen und dass die Sinneswelt etwas geben kann, was man nur von ihr empfangen kann. Er hatte ja – wohl um seinen achten Geburtstag – sein erstes okkultes Erlebnis: Er konnte seine Tante, die sich gerade das Leben genommen hatte, geistig wahrnehmen. Seit diesem Erlebnis hatte er die Fähigkeit, durch die Sinnesoberfläche auf das Wesen der Dinge schauen zu können. Er erzählte einmal in einem Vortrag, dass die Menschen in einem früheren Stadium die Begriffe als Wesenheiten geschaut hätten. So ähnlich, könnte ich mir vorstellen, hat er es auch erlebt: Dass er etwa eine rote Rose angeschaut hat, aber nicht auf das Rot der Rose, die Form, die Blütenblätter und Kelchblätter geachtet hat, sondern offenbar direkt das Pflanzenwesen, wie es in der Pflanze wirkt, wahrgenommen hat, aber eben die Qualität dieses wunderbaren Rots der Rose zum Beispiel nicht. Erst in seinen Dreißigern hat er deutlich gesehen, dass es ihm da an etwas mangelt. Andere Leute, so erzählt er es selbst, schauten sich drei-, viermal eine Rose an und konnten sie dann beschreiben. Er müsse sie jedoch dreißig-, vierzigmal anschauen, um sich die sinnlichen Einzelheiten einzuprägen.
Konnte er die Rose in ihrer Schönheit empfinden? Und hängt diese Empfindung an der sinnlichen Erscheinung? Oder würde das auch geistig gehen?
Ich kann mir das etwa so vorstellen: Wenn ich zum Beispiel etwas über dich erfahren wollte, müsste ich dich gar nicht groß anschauen oder beobachten, sondern könnte sofort wie innerlich das Gilda-Wesen in mir erleben. Und dann müsste ich sozusagen gar nicht mehr genau schauen, wie du aussiehst, sprichst, dich bewegst etc., wie sich das Wesen im Äußeren konkret zum Ausdruck bringt. Das ist so spannend, weil Rudolf Steiner ja Goethe, den Sinnesmenschen, den großen Beobachter, so herausgehoben hat. Goethe würde genau schauen, wie die Gilda jetzt in ihren einzelnen Äußerungen erscheint, und über die genaue Beobachtung etwas von deinem inneren Wesen erfahren. Bei Rudolf Steiner war das einfach gegeben, aber er hat Goethes Ansatz bewundert. Mit 35 Jahren begann er, sich diese Fähigkeit der genauen Beobachtung nach und nach zu erarbeiten. Inzwischen kann ich mir sogar vorstellen, dass sein zeitweise hoher Alkoholkonsum 1897/98 in Berlin diese geistige Fähigkeit – eine Art des Hellsehens, die ihm seit seiner Kindheit wie gnadenvoll gegeben war – wie zurückdrängte, damit er sich den Zugang zur geistigen Welt neu und sogar vertieft ‹erarbeiten› konnte. Rudolf Steiner kam durch verschiedene Erlebnisse und eben auch durch den Gang durch die Sinneswelt um die Jahrhundertwende in eine tiefere Schicht der geistigen Welt als bisher. Ich denke, dass er Goethes Methode erst dann für sich selbst wirklich fruchtbar machte. Ich glaube, dass er sich die Übungen, die er später in den Vorträgen über die ‹Praktische Ausbildung des Denkens› gibt, damals selbst verordnet hat. Dazu gehört zum Beispiel, sich jeden Tag um eine bestimmte Uhrzeit den Himmel anzuschauen, ohne sofort ein Urteil darüber entstehen zu lassen. Einfach empfindend wahrzunehmen, was da ist. Diese Fähigkeit zur reinen Beobachtung hat er sich damals anerzogen.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
Bild Rudolf Steiner mit Anna und Minnie Eunike, ca. 1900 in Berlin. © Rudolf Steiner Archiv