Immer in Entwicklung
Seit 2017 stellt ein Team junger Forscherinnen und Forscher zwei Fragen an ihre Altersgenossen: Wie würde die Welt im Jahr 2030 aussehen, wenn das, was in dir lebt, Realität wird? Was tust du dafür, damit das der Fall sein wird? Ein erster Bericht – auf Grundlage der Antworten junger Menschen aus 23 Ländern – wurde gerade veröffentlicht.
Eine der Zielsetzungen der Studie ist es, mehr darüber zu erfahren, wie junge Menschen die Wirklichkeit erleben. Wir führten dafür Interviews mit Altersgenossen, in denen sie ihre Lebenserfahrungen, Wünsche und Hoffnungen reflektieren konnten. In der ersten Phase fanden 40 Interviews mit Menschen zwischen 18 und 35 Jahren aus 23 Ländern und mit einer Vielfalt an kulturellen Hintergründen statt. Die jungen Leute wählten die Gesprächsthemen selbst. Wir identifizierten einige universelle Themen: Herkunft, Bildung, Beruf, Spiritualität und Beziehungen.
Raum für eigene Fragen
Diese jungen Menschen nehmen das Leben als eine ständig wechselnde und den Menschen verwandelnde Erfahrung wahr. Das erfordert, sich ständig seiner selbst bewusst und wach für die anderen zu sein, sowie ein ständiges Befragen und Gespräch vor dem eigentlichen Tätigwerden. Wir nannten dies den Zustand des ‹bewussten Werdens‹: «Ich bin mir wirklich dessen bewusst, dass sich ein Mensch als Ganzes entwickelt und immer weiterentwickelt», sagte eine 21-Jährige aus Deutschland.
Die Befragten suchen ein Umfeld mit der Möglichkeit für Veränderung und Werden; sie lehnen Situationen ab, in denen sie eingegrenzte, von anderen bestimmte Aufgaben ausführen sollen und eigene Fragen keinen Platz haben.
Wie kann man in einer ständig veränderlichen Welt Stabilität und Sicherheit schaffen? «Wenn alles in Bewegung ist – und das ist so in Ordnung –, muss ich verstehen, was ich brauche, um da durchzukommen», sagte ein 29-Jähriger aus Großbritannien.
Für diese jungen Menschen fordert die Wirklichkeit dazu auf, sich mit Gegensätzen, Unterschieden und Multikulturalität auseinanderzusetzen. Um dieser Anforderung nachzukommen, blicken die Befragten zunächst auf ihre eigene nationale, kulturelle und familiäre Herkunft. Die meisten erkunden und beschreiben ihre Herkunft locker, akzeptieren sie, auch wenn sie mit Herausforderungen kämpfen. Es ist nachvollziehbar, dass junge Menschen nach ihrer Herkunft fragen und nach dem, was zu ihrer Identitätsbildung beigetragen hat, besonders wenn sie mehrere Nationalitäten in sich vereinen. «Ich leite meine Identität nicht von einem bestimmten Teil der Welt ab, denn ich fühle mich der ganzen Welt verbunden», so eine 18-jährige Bolivierin.
Gesehen und verstanden werden
Für einige war eine positive Bildungserfahrung das Gefühl, von den Lehrern als Individualität ‹gesehen› und verstanden zu werden. Wir stellten eine Spannung fest, die vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) Befragte aus asiatischen Ländern erlebten: zwischen den Bildungs- und Berufserwartungen ihrer Familie und dem, was sie sich selbst wünschen.
In ihrem Beruf können sie oft ihre Interessen und Potenziale nicht voll entfalten; auch stellt er nicht immer den nötigen finanziellen Ausgleich sicher, um von anderen – Familie oder Staat – finanziell unabhängig zu sein. Es gibt ‹null Toleranz› für ein Berufsumfeld ohne Ethik oder ohne die Möglichkeit, sinnvolle Beziehungen aufbauen zu können. Auch empfinden sie es als schwierig, die eigene Berufung mit der Wirklichkeit ihres Berufs zu verbinden.
Die große Mehrheit der Befragten kritisierte Religionen, die für sie mit Unterdrückung und institutioneller Moral verbunden sind. Gleichwohl sprachen die jungen Menschen oft davon, dass für sie eine Beziehung zu einem göttlichen Wesen oder Spiritualität von Bedeutung ist. Auf der Suche nach tieferer Selbsterkenntnis experimentieren sie mit spirituellen Ansätzen, Meditation, Ritualen und auch Drogen. Diese Erfahrungen ermöglichen ihnen, wie sie sagen, über sich selbst nachzudenken und nach dem Wesen des Lebens, der Menschlichkeit und menschlicher Beziehungen zu fragen.
Leben mit Vielfalt und Unterschieden
Für die Befragten sind Beziehungen ein – wenn nicht der wichtigste – Aspekt ihres gegenwärtigen Lebens. Dazu gehört auch das Verhältnis zu sich selbst, das sich ihrer Meinung nach auf die Art und Weise ihrer Beziehung zu anderen auswirkt. Ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, wenn Beziehungen auf dem Austausch von Ideen und Fragen zum Menschsein allgemein basieren.
Die Befragten reflektieren oft ihre Beziehungen, als wollten sie fortdauernd durch Versuch und Irrtum lernen. Dies lässt sie immer wieder Beziehungen mit Menschen knüpfen, mit denen sie Erfahrungen teilen. Unerlässlich für sinnvolle Beziehungen sind für sie Authentizität, Ehrlichkeit und Transparenz – Werte, die zu einer guten Kommunikation führen, die für sie wiederum sinnvollen Beziehungen zugrundeliegt. Sie wollen zudem lernen, Vielfalt und Unterschiede zu integrieren, denn es ist ihnen ein Anliegen, ‹Anderssein› zu verstehen und dadurch akzeptieren zu können.
Die Interviewten waren nicht an vorgefertigten Lösungen für persönliche und weltweite Probleme interessiert. Sie hatten vielmehr das Bedürfnis, Werkzeuge zu finden, die es ihrem Denken ermöglichen, den ihnen sich stellenden Herausforderungen zu begegnen. In den jungen Menschen lebt eine starke Sehnsucht, Bedingungen zu schaffen, die es möglich machen, dass wir bewusst und aus einer tiefen Erkenntnis heraus die Herausforderungen angehen, denen wir gegenüberstehen. Für die Befragten beginnt alles mit individuellem Handeln.
Aus dem Englischen von Sebastian Jüngel.
(Re)Search Team Andrea de la Cruz Barral und Ioana Viscrianu Mentoren Constanza Kaliks, Pepa und Luis Miguel Barral Mitwirkende Alina Fessler, Janna De Vries, Johannes Kronenberg, Nahuel Waroquiers und Sibel Caliskan.
Web www.youthsection.org/research