Rudolf Steiners Vision der Anthroposophischen Gesellschaft

Rudolf Steiners Vision der Anthroposophischen Gesellschaft

10 Mai 2023 Peter Selg 710 mal gesehen

Gefragt, was Rudolf Steiner nach dem Brand des Goetheanum, auf dem Weg zur Weihnachtstagung, für eine Vision der Anthroposophischen Gesellschaft entwickelte – einer zukunftsfähigen Anthroposophischen Gesellschaft, die ein zweites Goetheanum ermöglicht, verdient und benötigt –, will ich kurz berichten, was ihm dabei wichtig, ja essenziell war. – Dieser Text ist ein Autorreferat eines Redebeitrages auf der Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft 2023.


Friedrich Wilhelm Schelling schrieb 1811 in seiner Schrift ‹Die Weltalter›: «Das Vergangene wird gewusst, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewusste wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt.»[1]

Wir haben demnach die Aufgabe, das Vergangene zu «wissen» und zu «erzählen», «Geist erinnern» zu üben und darüber zu sprechen. Wir haben des Weiteren die Verpflichtung, das Gegenwärtige zu «erkennen» und «darzustellen», also uns auf die aktuelle Situation und ihre Herausforderungen geistig zu besinnen – und sie und unser Verhalten aufzuzeigen. Schließlich stehen wir vor einer offenen Zukunft, die jedoch keine Tabula rasa sein soll, sondern die wir zumindest «ahnen» müssen, umrissartig antizipieren; sonst werden wir von ihr gänzlich überrascht, wenn nicht überfallen. Wir sollen auf sie wach zuleben, sie «weissagen» lernen – «Übe Geist erschauen», auch den kommenden Geist, den Geist (oder Ungeist) des Kommenden.

Aber noch immer sind wir – zumindest auch – mit der Vergangenheit beschäftigt und zum Teil belastet. Warum? «Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit», schreibt Schelling.[2] Er schreibt nicht «eigentlich», sondern «eigentliche». Seine Aussage ist vielschichtig. Sie impliziert nicht nur, dass wir viel zu wenig Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein haben. Schelling war den meisten von uns weit voraus, nicht nur im Hinblick auf die «Weltalter». Allerdings geht es ihm noch um mehr und anderes. Es geht ihm um die Aufhebung der Vergangenheit als «eigentliche» Vergangenheit – durch die Tendenz des Menschen, sich an ihr festzuhalten und die Gegenwart und Zukunft darüber zu versäumen, ja zu verunmöglichen. «Jene, welche immer die Vergangenheit zurückwünschen, die nicht fortwollen, indes alles vorwärts geht, und die durch ohnmächtiges Lob der vergangenen Zeiten wie durch kraftloses Schelten der Gegenwart beweisen, dass sie in dieser nichts zu wirken vermögen.»[3] Schließlich beschreibt Schelling noch eine zweite Abirrung oder Verfehlung im Umgang mit dem Geschichtlichen: «Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr.»[4] Hier liegt das Problem der unerlösten, noch immer aufgegebenen Vergangenheit; weil wir sie und ihre Herausforderungen nicht gemeistert haben, leben wir weiter in ihrem Bannkreis, setzen sie fort, ohne dass eine andere Gegenwart, ja ‹Gegenwart› überhaupt möglich wird, geistesgegenwärtig möglich wird. Von Beispielen dieser Problematik – einer fortwirkenden Vergangenheit, die keine ist – sind wir im Bereich der Politik und Gesellschaft umstellt; aber auch im Bereich der Psychotherapie und Traumatologie ist Schellings Aussage längst Allgemeingut. Ich verlasse nun Schelling.

Was war Rudolf Steiner nun wichtig, essenziell für eine Vision der Anthroposophischen Gesellschaft? Man sollte es «wissen» und davon ausführlich «erzählen» – im Sinne Schellings –, aber ich will es hier kurz machen, greife daher sieben Punkte heraus. Wenn man sich diese sieben Punkte oder Probleme vergegenwärtigt, steht man, so meine ich, nicht in der Gefahr, der ersten Versuchung zu verfallen, jener des «Lobes» der vergangenen Zeiten; vielmehr sieht man sich mit der zweiten Situation konfrontiert, jener der unbewältigten Vergangenheit, die sich in weiten Teilen bis in die Gegenwart fortsetzt. Und die verhindert, dass wirkliche Gegenwart, Geistesgegenwart entsteht als Voraussetzung eigentlicher Zukunft. Positiv gewendet: Es gilt, im Verlauf einer Generalversammlung und in den Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft überhaupt sich dieser von Steiner bemängelten Vergangenheit «entgegenzusetzen», ja, in einer ganz anderen Diktion zu handeln.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen.

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