Visionen aus der Wüste
15 November 2022
| Andrea Valdinoci
& Helmy Abouleish
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Andrea Valdinoci war als Rat der Evidenz-Stiftung Anfang Oktober in Sekem, Ägypten. Beeindruckt von der Initiativkraft des Ortes und der Menschen, sprach er mit Helmy Abouleish über Sekems Vision. Nicht nur die biodynamische Landwirtschaft ist dabei das Ziel, sondern ein Systemwandel, eine Umgestaltung unseres Bewusstseins, damit ein Miteinander von Mensch und Natur möglich wird.
Andrea Valdinoci Ich bin sehr berührt davon, was ihr in Sekem und Wahat aufgebaut habt. Zu sehen, wie Mohamed, der Farmmanager in Wahat, die 1000 Hektar bewirtschaftet, wie es möglich ist, in einer kompletten Wüstenlandschaft so schnell Verschiedenstes anzubauen, war nicht nur hoffnungsvoll, sondern sehr berührend. Auch wie so ein Mensch nicht nur Farmer ist, sondern Verschiedenes über das Land weiß, alles beantworten kann über Pflanzen und dann noch das Mittagsgebet für seine Mitarbeiter hält. Was ihr hier aufgebaut habt, ist für viele Menschen auch eine neue Chance. Auf der Sekem-Farm gibt es verschiedenste Bildungsangebote: von der Krippe bis zu den Jugendlichen, die eine Metallausbildung machen können, von der großen Schule bis zur Ausbildung von Lehrkräften. Ganz herzlichen Dank für diesen kräftigen Impuls für die Welt und dass du heute hier aktuell berichten kannst, was ihr macht und vorhabt. In diesen Tagen sagtest du: «Sekem wird es nur geben, wenn wir das gesamte System verändern. Also alles, von den Banken bis zur Politik.» Kannst du das genauer erklären?
Helmy Abouleish Der Traum, den mein Vater hatte, als er Sekem 1977 gründete, war der Traum eines Systemwandels in Ägypten. Mit Systemwandel meine ich den in allen vier Lebensdimensionen: Kultur, Wirtschaft, Soziales, Natur. Ein Systemwandel für eine Wirtschaft, die wirklich dem Menschen dient, jedem Beteiligten ermöglicht, sein Potenzial zu entfalten, seine Bedürfnisse zu decken, ein lebenswertes Leben zu leben. Die Produkte oder Dienstleistungen, die dabei rauskommen, sollten natürlich auch wirklich gesund und in Harmonie mit der Natur und der Gesellschaft sein und dem Einzelnen ermöglichen, sich durch diese Produkte weiterzuentwickeln. Das Gleiche kann man auch sagen für den kulturellen Bereich. Denn wenn man damals nach Ägypten geschaut hat und jetzt noch viel mehr nach Ägypten schaut, dann erlebt man, dass das Bildungssystem, auch an den Universitäten, die Forschung und die Kulturlandschaft diesen Systemwandel brauchen. Aber immer zentriert darauf, dass es um Menschenentwicklung geht, um Bewusstseinsentwicklung. Dass es von der Geburt bis zum Tod und in jeder Situation für uns immer wieder eine Chance geben muss, zu lernen, uns weiterzuentwickeln und zu entfalten. Es geht um dieses göttliche Licht, wie es der Islam so schön sagt, das in jedem von uns ruht. Und das Gleiche gilt für die Gesellschaft und im Sozialen. Gerade wenn man vom Westen hierher schaut, hat man das Gefühl: ‹Die sind weit hinter uns und haben nicht diese wunderbare Demokratie.› Das mag in vieler Hinsicht stimmen, aber man darf nicht vergessen: Jede Gesellschaftsform ist Resultat des Bewusstseins der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, ein Spiegel sozusagen dieses Bewusstseins. Daher geht es eigentlich darum, an diesem Bewusstsein zu arbeiten, um die Gesellschaft zu verändern. Wenn man jedoch solchen Gesellschaften die Formen anzutragen versucht, die für ein anderes Bewusstsein, zum Beispiel für den Westen, passen, funktioniert das nicht. Das sieht man auch sofort.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Website der Wochenschrift lesen.

Titelbild Kräuterfeld der Oase Wahat von Sekem