Wenn Kunst und Wissenschaft miteinander spielen
Kunst lässt uns die Natur tiefer verstehen und wird so zu Forschung. Eduardo Rincón, Co-Leiter der Landwirtschaftlichen Sektion, beschäftigt sich künstlerisch und wissenschaftlich mit seinen Studienobjekten und erzählt von seiner Pendelbewegung zwischen beiden. Er erzählt seine Geschichte mit Wissenschaft und Kunst.
Wir wuchsen auf einer großen Farm in der Hochwüste mitten in Mexiko auf. Mein Bruder und ich konnten mit den Pferden bis zum Horizont reiten, dort schlafen, Feuer machen und die Sterne beobachten. Es war inspirierend, in die Natur zu gehen, die Schönheit und Antworten auf die großen Fragen zu finden, die wir alle als junge Menschen haben. Ich dachte, ich könnte diese Leidenschaft für die Natur in der Biologie wiederfinden, inspiriert von der Arbeit vieler Naturforscher und -forscherinnen. Ich ging in die Wissenschaft, weil ich dachte, ich würde dort auch Antworten finden. Am Anfang war ich sehr glücklich. Biologie ist erstaunlich. Während meines Studiums arbeitete ich in verschiedenen Laboren, darunter eines mit dem schönen Namen ‹Labor für den Ursprung des Lebens›. Ich dachte, jetzt werden wir herausfinden, wie alles begann. Wir untersuchten etwas wirklich Schönes: geschichtete Sedimentformationen. Aber wir stellten nicht einmal die Frage, wo das Leben sei. Also wechselte ich zur Ökologie tropischer Pflanzen. Ich habe sieben Jahre lang Pflanzen im Tropenwald studiert und war glücklicher. Die Wechselwirkungen zwischen allen Ebenen von Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen ist einfach erstaunlich. Es gibt keine Mathematik, die in der Lage ist, diese Wechselwirkungen wirklich zu verstehen. Ich brauchte einen anderen Weg, um sie zu verstehen. Als Kinder wurde uns beigebracht zu zeichnen, so wie man lernt, mit einer Gabel zu essen. Wenn ich meiner Mutter etwas erklärte, sagte sie: «Ich verstehe nicht, kannst du es zeichnen?» Während meines Studiums im Tropenwald habe ich viel gezeichnet und sogar mit wissenschaftlichem Zeichnen etwas Geld verdient.
Dann kam meine erste wirklich große Krise. Eines Tages untersuchte ich im Wald die Verbreitung von Farnen. Ich hatte ein Fischaugenobjektiv, ein 360-Grad-Objektiv, und fotografierte den Himmel, denn in den tropischen Wäldern ist das Licht eine wichtige Ressource. Die Bäume bilden eine sogenannte Waldlücke, die sich jahreszeitlich ändert, weil Bäume bei Stürmen umfallen und Lücken im Kronendach öffnen. Wenn man zwei Hektar in einem flachen Land ohne Pflanzen sieht, ist das nicht so groß. Aber im tropischen Wald, diesem steinigen Ort voller gefährlicher Tiere, tödlicher Schlangen usw., ist eine Zählung auf zwei Hektar Land eine ziemliche Herausforderung. Also habe ich versucht, die Verteilung der Farnarten zu sehen. Ich schaute mir das Bild der Waldlücke an und erkannte: Ich werde mit diesen Methoden nie wirklich verstehen, was da geschieht. Ich war traurig und hatte Angst, denn ich hatte angenommen, dass die Wissenschaft alles erklären könnte. Diese Krise brachte mich dazu, mich der Kunst zuzuwenden. Ich wollte einen anderen Weg finden, und das würde meine Methodik werden.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
weiterlesenTitelbild Eduardo Rincóns Schreibtisch (Ausschnitt)