Wie lehrt man Anthroposophie?
Anthroposophie als Werkzeug und nicht als System oder Glaubensbekenntnis zu verstehen, ist eine Frage ihrer Vermittlung. Louis Defèche hat Constanza Kaliks und Andrea De La Cruz, die für das Anthroposophie-Studium am Goetheanum verantwortlich sind, dazu befragt.
Das Thema ist ziemlich umfangreich – lasst uns damit anfangen: Welche Fähigkeiten und Kompetenzen möchtet ihr bei den Studierenden fördern, wenn ihr im Goetheanum-Studium Anthroposophie vermittelt?
Constanza Kaliks Ein zentrales Anliegen ist, zu lernen, wie man lernt – auch in der Anthroposophie. Für Erwachsene geht es darum, das Lernen als einen fortlaufenden Prozess zu sehen. Das ist in der Anthroposophie eine umfassende Erfahrung, weil es nicht nur darum geht, Informationen aus Büchern zu sammeln. Natürlich erhält man jedes Mal, wenn man liest, neue Erkenntnisse. Wie Rudolf Steiner es im ersten seiner ‹Leitsätze›, die er am Ende seines Lebens verfasst hat, formuliert, ist Anthroposophie jedoch ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschen zum Geistigen in der Welt führen will.1 Ein Erkenntnisweg – das bedeutet, sich ständig darum zu bemühen, verschiedene Bereiche der Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Wenn dieser Erkenntnisweg das Geistige im Menschen zum Geistigen in der Welt führen soll, dann kommen wir zu der Frage zurück, was Erkenntnis bedeutet: immer verbinden, immer bereit sein, sich auf Verhältnisse einzulassen. Wenn Anthroposophie ein Erkenntnisweg ist, dann ist sie eine Beziehungstätigkeit – es geht darum, zu lernen, Dinge zu verbinden: deine Erfahrungen, was du bist und was die Anthroposophie bringen kann. Das neunmonatige Studium hier am Goetheanum kann nicht als abgeschlossener Prozess bezeichnet werden. Gemeinsam versuchen wir, Sphären zu öffnen und auf diesem Weg lernen zu lernen.
Andrea De La Cruz Als Koordinatorin, nicht als Lehrerin, denke ich, dass wir Lernprozesse unterstützen. Ich sehe, wie die Lehrer einen Zugang zu Steiners Werk schaffen, insbesondere im Teil des Programms, der dem Textstudium gewidmet ist. Was wir fördern wollen, ist lebendiges Denken. Wie können wir den Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit geben, sich mit den Texten auseinanderzusetzen, nachzudenken und ihre Gedanken entlang der Gedankengänge des Autors zu bewegen? Fast so, als würde man den Text vor ihnen offenlegen oder ihn roh präsentieren, damit sie ihn so nah wie möglich erleben können. Kann ich mich dann innerlich und aktiv mit den Themen der Texte und mit dem, was der Autor sagt, auseinandersetzen? Können wir hier eine Brücke zwischen beiden schlagen und zu etwas Neuem für uns selbst gelangen? Es geht darum, spirituelle Erfahrungen im Lernprozess zu fördern.
Wie hat sich das Goetheanum-Studium entwickelt?
Kaliks Viele Jahre wurde das Studium der Anthroposophie am Goetheanum aus ganz praktischen Gründen auf Deutsch gemacht. Dann wurde es dank Virginia Sease möglich, auch auf Englisch zu studieren – nicht nur ein paar Wochen, wie bei den Englischwochen, sondern das ganze Programm lief parallel auf Englisch und Deutsch. 2013 kam die Möglichkeit dazu, dass sich die Studierenden morgens aufteilen, um die Texte in verschiedenen Sprachen – Spanisch, Portugiesisch, Deutsch oder Englisch – gemeinsam zu studieren. Im restlichen Programm waren alle zusammen und alles lief auf Englisch. In den letzten Jahren haben wir jedoch so viele Studierende aus Asien und anderen Ländern aufgenommen, dass wir beschlossen haben, das morgendliche Textstudium in einer gemeinsamen Sprache abzuhalten. Also, weil wir jetzt Studierende aus so vielen Ländern und mit so vielen Sprachen haben, ist das ganze Programm auf Englisch – es ist einfacher, auch wenn es nicht die Muttersprache von allen ist. Für manche ist es herausfordernd, aber die Bemühung, mit verschiedenen Sprachen und kulturellen Erfahrungen zusammenzuarbeiten, ist sehr bereichernd. Während der morgendlichen Textarbeit können die Studierenden dem Text in ihrer eigenen Sprache folgen, aber die Diskussionen finden auf Englisch statt. So erleben sie das Übersetzen als Teil des Studiums. ‹Traducere› (Übersetzen) bedeutet ‹von einer Seite zur anderen gehen› und ‹ducere› bedeutet im Lateinischen ‹führen›. Diese Bewegung von einer Seite zur anderen, während man gleichzeitig geleitet wird – durch den Text selbst, durch die Gespräche –, schafft bei uns allen, Lehrern und Studierenden, ein Bewusstsein dafür, dass man sich dem Kontext über die Sprache nähert. Der Wert von Sprachen und lebendigem Denken, wie Andrea erwähnt hat, wird sehr greifbar und bleibt nicht nur theoretisch.
De La Cruz Was ich besonders finde, ist, dass wir versuchen, die Programme nach den Interessen und Bedürfnissen der Studierenden zu gestalten, und das bedeutet, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. Wir entscheiden nicht einfach, was wir für gut halten, um es dann immer wieder zu wiederholen. Das Team entwickelt ein Gespür dafür, was die Studierenden und die anthroposophische Bewegung im Allgemeinen brauchen oder wollen – also die globalisierte Gegenwart. Interessant finde ich, dass sogar Studierende aus deutschsprachigen Regionen, die auf Deutsch studieren könnten, sich für das englischsprachige Programm entscheiden, weil sie die internationale Begegnung suchen. Die Studierenden wollen das, und als Lehrende oder Begleitende fragen wir uns: Was steckt dahinter? Wie können wir diese Sehnsucht in den Lernprozess einfließen lassen? Die Sehnsucht nach einer kosmopolitischen Begegnung und die Tatsache, dass der Sprachenunterschied kein Hindernis darstellt, spiegeln wider, worum es in der Anthroposophie letztlich geht: das Verstehen des Menschen. Wenn die Sprache das Verstehen eines Menschen in all seinen vielfältigen Möglichkeiten einschränkt, dann kann sie übersetzt oder überwunden werden. Ich denke, Anthroposophie ist ein Weg, um solche Verständnislücken zu überbrücken. Im Moment ist Englisch als Sprache ideal, um die Möglichkeit der Begegnung durch Anthroposophie zu vertiefen. In Zukunft, wenn die Allgemeine Anthroposophische Sektion ihre Arbeit an zweisprachigen Ausgaben der Schriften Rudolf Steiners fortsetzt, werden wir noch bessere Studienmaterialien entwickeln, um auch für nicht deutschsprachige Studierende eine Brücke zur Originalsprache zu schlagen. Die neue Ausgabe der ‹Leitsätze› ist zum Beispiel wunderschön gestaltet, mit Deutsch und Englisch nebeneinander. Dies verbessert das Leseerlebnis und macht es einer internationalen Gemeinschaft möglich, Englisch als Gesprächssprache zu verwenden und sich gleichzeitig mit dem deutschen Originaltext auseinanderzusetzen. Das ist ein spannender Schritt in die Zukunft.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
Die Abteilung für Studium und Weiterbildung ist Teil der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion am Goetheanum und bietet Vor-Ort- und Onlinekurse an, die auf der Anthroposophie basieren. Anmeldungen für die Sommer- und Herbstprogramme 2025/26 sind möglich. Mehr studium.goetheanum.ch
Titelbild Abschlussrunde der Studierenden am Goetheanum 2025. Foto: Xue Li