Aspekte der Zeit für das menschliche Leben
‹Der Mensch im Strom und Gegenstrom der Zeit› ist ein Forschungsprojekt der Medizinischen und der Pädagogischen Sektion mit Thomas Fuchs, Inhaber des Karl-Jaspers-Lehrstuhls Universität Heidelberg (DE).
Viele Menschen klagen heute darüber, ‹keine Zeit zu haben›, erleben sich als erschöpft. Die moderne Uhr-Zeit ist eine linear fortschreitende Zeit, eine Zeit des Zählens, Messens, und anhand der Uhrzeit vergleichen wir uns, wer zum Beispiel im Sport der Schnellste ist. Technisch, wirtschaftlich, politisch ist dabei unser Leben von einer zunehmenden Beschleunigung geprägt. Demgegenüber leben Pflanzen, Tiere und Menschen in zeitlichen, ursprünglich kosmischen Rhythmen, die polare Qualitäten wie Tag und Nacht, Wachen und Schlafen vermitteln und nicht linear, sondern ‹zyklisch›, in ‹Zeitenkreisen› verlaufen. Der moderne Mensch erlebt sich ‹im Wettlauf mit der Zeit›, zerrissen zwischen Uhr-Zeit und leiblich-seelisch erlebter Zeit. Rudolf Steiner sprach 1882 bereits mit 21 Jahren von der Notwendigkeit einer Korrektur des gegenwärtigen Zeitbegriffes.
Im seelischen Erleben unterscheiden wir die Erinnerung des Vergangenen, das Erleben der Gegenwart und die Erwartung der Zukunft. Die Evolutionsforschung kann zeigen, wie jedes Lebewesen leiblich an Vergangenheit und Zukunft Anteil hat. Wesentliche Beiträge zu dieser Frage hat Wolfgang Schad (1935–2022) geleistet. Thomas Fuchs von der Universität Heidelberg (DE), Psychiater und Philosoph, hat sich intensiv mit dem Gegensatz von linearer und zyklischer Zeit beschäftigt. Seit 2020 arbeiten Florian Osswald für die Pädagogische Sektion und Georg Soldner für die Medizinische Sektion mit Thomas Fuchs an einer gemeinsamen wissenschaftlichen Publikation zu diesem Thema. Dabei zeigt sich, dass jegliches Üben den Charakter einer bewusst zyklisch gestalteten Zeit hat und beispielsweise der Waldorflehrplan über die verschiedenen Klassen hinweg unter dieser Perspektive eine neue Beleuchtung erfährt.
Freiheit erfordert die Fähigkeit des Innehaltens
Zeit und zeitliche Aspekte spielen in Medizin, Pädagogik und Entwicklungspsychologie und der menschlichen Biografie eine zentrale Rolle. Im Verstehen und im Umgang mit der Zeit spiegeln sich unmittelbar das Verständnis und die Pflege des Lebendigen. Lernen und menschliche Entwicklung wiederum hängen in hohem Maße von einer Kultur des Übens – einer bewusst zyklisch gestalteten Zeit – ab. In Kunst und Meditation eröffnet sich eine höhere Dimension der Gegenwart.
Menschliche Freiheit erfordert die Fähigkeit des Innehaltens, der inneren Öffnung gegenüber dem Neuen, Möglichen, das aus der Zukunft kommt. Dieser ‹Gegenstrom der Zeit› wird in der Zeitauffassung der modernen Physik, die nur mit kausalen Ursachen rechnet, negiert – damit aber auch der freie Mensch. An diesen Fragen setzt das gemeinsame Forschungsprojekt an und zielt auf ein Symposion zu dieser Frage und eine wissenschaftliche Publikation.
Spenden Medizinische Sektion (Verwendungszweck: Projekt: Im Gegenstrom der Zeit)
100 Jahre Hochschule und ihre heutige Forschung
Mit der Weihnachtstagung 1923/24 wurde auch die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft inauguriert. Im Vorfeld der 100-Jahr-Feier hat die heutige Goetheanum-Leitung aktuelle Forschungsvorhaben der Hochschule in der Broschüre ‹Einblicke› dokumentiert. Einige der Projekte werden in ‹Anthroposophie weltweit› vorgestellt.
Sebastian Jüngel