Ausnutzung für den Aufbau des NS-Staates

Ausnutzung für den Aufbau des NS-Staates

31 Oktober 2024 Sebastian Jüngel 1084 mal gesehen

Die anthroposophische Ärzteschaft widerstand weitgehend und insbesondere inhaltlich der nationalsozialistischen Ideologie; Einzelne erhofften sich Vorteile für die Anthroposophische Medizin und ließen sich auf das System ein. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie von Peter Selg, Susanne H. Gross und Matthias Mochner.


In der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland hatte auch die anthroposophische Ärzteschaft ein Verhältnis zum nationalsozialistischen Staat zu finden. Die Studiengruppe Peter Selg (Professor für medizinische Anthropologie und Ethik sowie Mitglied der Goetheanum-Leitung), Susanne H. Gross (Historikerin) und Matthias Mochner (Historiker) untersuchte institutionelle und persönliche Nähe. Da es die Bezeichnung ‹anthroposophischer Arzt› damals noch nicht gab, recherchierte das Studienteam, wer zur anthroposophischen Ärzteschaft zu zählen war und wer von ihnen in welchem Grad mit dem nationalsozialistischen Regime in Verbindung stand.

Das Forscherteam wertete Dokumente aus über 250 öffentlichen und privaten Archiven aus, darunter behördliche Unterlagen, Nachlässe und Beiträge in (Fach-)Zeitschriften, erschloss bisher unbekannte Quellen und erstellte biografische Mikrostudien ausgewählter anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte.

Das Studienteam kommt zum Ergebnis, dass es keine Anpassungen «an Denkweisen und Terminologien der NS-Politik und -Medizin» gegeben hat. Die anthroposophische Ärzteschaft war – gemessen am Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland – unterdurchschnittlich in den nationalsozialistischen Strukturen engagiert. Die leitende anthroposophische Ärztin Ita Wegman erkannte früh die Gefahren des Nationalsozialismus, engagierte sich für den Erhalt aller Lebensformen und ermöglichte Fluchtwege für jüdische Kinder und Jugendliche sowie für Berufskolleginnen und -kollegen. Jüdische Kolleginnen und Kollegen erfuhren «innerhalb der anthroposophischen Ärzteschaft nach den vorliegenden Dokumenten keinerlei distanzierende Ausgrenzung, sondern erlebten überwiegend Unterstützung und Solidarität», stellt das Studienteam fest. Auch andere anthroposophische Ärztinnen und Ärzte sowie anthroposophische Medizinstudentinnen und -studenten «beteiligten sich an medizinischen und politischen Widerstandstätigkeiten».

Vorstellung der Studie in Berlin am 23. Mai 2024: Sybille Seitz (Moderation), Astrid Ley (Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen), Florian Bruns (Medizinhistoriker), Thomas Beddies (wissenschaftlicher Beirat der Studie) und Peter Selg (Co-Autor)

Unter den anthroposophischen Medizinerinnen und Medizinern versprachen sich einzelne durch Verbindung zum nationalsozialistischen Staat einen Vorteil für die Anthroposophische Medizin, darunter Wilhelm zur Linden. Friedrich Husemann strebte zunächst «eine in den NS-Staat integrierte anthroposophische Ärzteorganisation» an, die Teil der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine ‹Neue Deutsche Heilkunde› wurde, «in der kurzen Zeit ihres Bestehens von Mai 1935 bis Januar 1937 jedoch keine erkennbare Rolle» spielte. Am Goetheanum glaubte Schatzmeister Guenther Wachsmuth gemäß Studienteam an die Möglichkeit, «anthroposophische Einrichtungen und Initiativen innerhalb des NS-Regimes zur Anerkennung zu bringen», ohne selbst bekennender Nationalsozialist zu sein. Darüber hinaus gab es Menschen wie Hanns Rascher, der Nationalsozialist und Sicherheitsdienst-Mitarbeiter war und als ‹Vermittler› Einfluss auf beide Seite nahm.

Seitens des nationalsozialistischen Staates gab es einerseits Interesse an Aspekten der Anthroposophie. So setzte sich Otto Ohlendorf vom Reichssicherheitshauptamt bis 1941 «unter anderem für den Erhalt der heilpädagogischen Heime, der Waldorfschulen, der biologisch-dynamischen Höfe und eventuell auch der Weleda ein». Alfred Baeumler, Otto Ohlendorf und andere waren jedoch «in ihren positiven Voten in der NS-Führungselite umstritten». Zusätzlich betont das Studienteam: «Die Menschenversuche Sigmund Raschers im KZ Dachau hatten keinen anthroposophischen Hintergrund und keine anthroposophische Motivation», auch wenn er Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und «einer der bekanntesten anthroposophischen Vertreter der Krebsfrühdiagnose» war.

Andererseits ging es selbst Alfred Baeumler und Otto Ohlendorf, wie das Studienteam festhält, «nie um die Anerkennung der Anthroposophischen Medizin, der Waldorfpädagogik oder der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise», sondern «um deren Ausnutzung für den Aufbau des NS-Staates». In allen Gutachten des Sicherheitsdiensts sei die Rede davon, «dass [Rudolf] Steiner und die Anthroposophen mit ihrer Ablehnung jeglichen rassebiologischen und antisemitischen Denkens und Handelns in völligem Gegensatz zum Nationalsozialismus stünden».

Die Studie wurde von der Akademie der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland 2016 beauftragt. Begleitet wurde die Studie von einem wissenschaftlichen Beirat mit Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin, Deutschland. Die Studie ist auf drei Bände angelegt: die Anthroposophische Medizin im Nationalsozialismus, das Verhalten von Weleda und Wala sowie die anthroposophische Psychiatrie und heilpädagogische Heime. Finanziert haben die Studie die Mahle-Stiftung, die Software-AG-Stiftung, die Christophorus-Stiftung, die Hauschka-Stiftung, der Rudolf-Steiner-Fonds für wissenschaftliche Forschung sowie Gabriele Christine Gomille-Dömling (1925–2018).


Buch Peter Selg, Susanne H. Gross und Matthias Mochner: Anthroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft, Schwabe-Verlag 2024