Die Einzigartigkeit jeder Individualität

Die Einzigartigkeit jeder Individualität

26 September 2023 Sebastian Jüngel 2654 mal gesehen

Die Würde des Menschen wird durch Diskriminierung und Kriege verletzt. Constanza Kaliks und Peter Selg, Leitende der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion am Goetheanum, erschließen in einem mehrjährigen Projekt die Beiträge des jüdischen Humanismus in Werkporträts.


«Zum Humanismus gibt es im 20. Jahrhundert viele Stimmen», sagt Constanza Kaliks, Co-Leiterin der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion am Goetheanum. Sie und ihr Kollege Peter Selg sehen in der Auseinandersetzung mit den Beiträgen des jüdischen Humanismus angesichts akuter Konflikte und zivilisatorischer Herausforderungen eine existenzielle Aufgabe.

Warum ausgerechnet durch eine Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, eine Gründung Rudolf Steiners? Peter Selg zeichnet im Buch ‹Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus› die Beziehung Rudolf Steiners zum Judentum, zum Zionismus und zum Antisemitismus nach. Diese erweist sich als differenziert: voller Hochachtung gegenüber den kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen von Menschen, die mit der jüdischen Kultur verbunden sind; kritisch gegenüber einem nationalen Zionismus, den Rudolf Steiner – wie jede andere nationalstaatliche Bewegung – für überholt und gefährlich hielt; zudem wählte er in den 1880er-Jahren Formulierungen, die zu Irritationen bei jüdischen Freunden führten. Peter Selg bettet sie in den Kontext des damaligen Diskurses ein und zeigt auf, dass Rudolf Steiner auch zu späterer Zeit Anteil an den Entwicklungen in Palästina nahm, das Werk Martin Bubers schätzte und Zionisten wie Ernst Müller und Hugo Bergman eng verbunden war.

Peter Selg und Constanza Kaliks arbeiten anhand von Werken jüdischer Philosophinnen und Philosophen des 20. Jahrhunderts deren Beiträge «zum tieferen Verständnis der Gegenwart» heraus und sehen in ihnen eine Nähe zum sozialen wie spirituellen Anliegen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Constanza Kaliks: «Die im jüdischen Humanismus beschriebenen Perspektiven nehmen den Menschen in seiner geistigen Dimension wahr. In der Zuwendung zum Anderen ist die Menschlichkeit des Menschen selbst begründet. Dies eröffnet einen Dialog mit sich, mit den Anderen und mit der Welt, der auf einen erweiterten Horizont des zu Erkennenden weist. Hierin liegt auch die Möglichkeit eines weiterführenden Dialogs zwischen dem Hochschulimpuls Rudolf Steiners und den Philosophen des jüdischen Humanismus.»

Peter Selg und Constanza Kaliks ist wichtig, dass der bisher weitgehend unterbliebene Dialog zwischen Anthroposophie und jüdischem Humanismus heute geführt wird. Dafür erschlossen sie seit 2021 am Goetheanum die Lebenswege, Schriften und das Wirken von Martin Buber, Franz Rosenzweig, Primo Levi, Hans Jonas, Hannah Arendt, Simone Weil, Gustav Landauer und Maria Krehbiel-Darmstädter – auf der Grundlage einer umfassenden wissenschaftlichen Primär- und Sekundärliteratur; weitere Veranstaltungen zu Emmanuel Levinas und Paul Celan finden noch 2023 statt. Die Reihe wird 2024/25 mit Würdigungen von Ernst Müller, Hugo Bergmann, Gershom Scholem und Margarete Susman fortgesetzt.


Buch Peter Selg, Constanza Kaliks: Die Gegenwart des Anderen. Über Martin Buber und Franz Rosenzweig, Verlag am Goetheanum 2022
Buch
Constanza Kaliks, Peter Selg, Udi Levy, Iftach Ben Aharon: Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus, Verlag am Goetheanum 2023

Web Videoreihe zum jüdischen Humanismus
Web Erklärung der Goetheanum-Leitung ‹Anthroposophie und Rassismus›

Titelbild Detail vom Goetheanum, Dornach, Schweiz (Foto: Sofia Lismont)