Imagination von Europa: Europa ist Begegnung

Imagination von Europa: Europa ist Begegnung

25 September 2019 Jonas Lismont 1074 mal gesehen

Bei der zehnten Tagung ‹Die Seele Europas› von 23. bis 25. August 2019 im Herzen der politischen Hauptstadt Europas, in Brüssel (BE), konnten die Teilnehmenden die europäischen Institutionen besuchen und die Stimmung des europäischen Viertels wahrnehmen.


In diesem Kontext und durch die inspi­rierenden Beiträge und Gespräche konnte man zu einem neuen Verständnis über die Idee Europas kommen:
Wieso haben wir überhaupt gegenüber Europa so große Erwartungen?

Versucht man dabei die europäische Idee zu fassen, gerät man gleich in Widersprüche: Europa ist ein Kontinent, gespalten zwischen Ost und West; und doch lässt sich die Idee Europas bereits geografisch nicht begrenzen: Denn obwohl die Grenzen im Westen klar sind, sind sie unbestimmt im Osten.

Widersprüchliche Bilder

Europa ist eine Heimat für Viele und Vieles, aber gehört es nicht ohnehin zur Wirklichkeit des Menschseins heute, heimatlos zu sein? Könnte in diesem Sinne Europa als eine Heimat der Heimatlosen ge­sehen werden? Darüber hinaus könnten viele von Europa erwarten, dass es sich im weltweiten Wettbewerb als politische oder wirtschaftliche Macht profiliert. Doch man ahnt auch: Machtfragen haben mit der Identität Europas gar nichts (mehr) zu tun.

Unsere Vorstellungen zu diesem Kontinent sind also widersprüchlich. Ist diese Spannung vielleicht schon ein erster Aspekt seiner Identität? Denn in jedem Gegensatz gibt es Potenzial für einen Raum, dessen Identität oder Substanz nicht von diesen − widersprüchlichen − allgemeingültigen Gedanken kommt, sondern aus dem Moment einer Begegnung hervorgeht, der einzigartig und situativ ist. In diesem Raum sind weder eine abstrakte Wahrheit noch Effizienz noch Nutzen ausschlaggebend, sondern allein die Begegnung von freien Wesen, die gemeinsam soziale Substanz bilden. Dieser Raum ist fragil, aber dringend nötig: Auf individueller Ebene wollen Menschen als Individuen verstanden und anerkannt werden sowie den anderen unterstützen. Können sie das nicht, versuchen sie diesen Drang anders zu befriedigen, etwa durch Nationalismus und Extremismus.

Eine Herausforderung

Weltweit bauen sich Gegensätze und Spannungen auf. Gravierende wirtschaftliche, politische und militärische Krisen drohen die Welt in den Abgrund zu ziehen. Diese erns­te Lage wird sich weder durch Macht noch durch Ideologie lösen, sondern durch offene Begegnungsräume. Kann E­uro­pa hier einen Beitrag leisten? Viele Menschen blicken auf Europa mit dieser Frage.

Räume zu schaffen, damit Europa sich selbst begegnen kann, von Jekaterinburg (wo die Tagung ‹Die Seele Europas› von 9. bis 12. Juli 2020 stattfinden wird) bis Brüssel soll vor allem bedeuten, zu lernen, den anderen, wo immer er auch lebt oder arbeitet − in anthropo­sophischen oder EU-Einrichtungen −, ernstzunehmen und ihm als das, was er ist, zu begegnen. Denn aus dieser ehrlichen Begegnung werden beide freier, Europa wird europäischer und kann vielleicht einen zarten, jedoch fundamentalen Beitrag für die ganze Welt leisten.


Jonas Lismont leitete mit Louis Defèche die Arbeitsgruppe ‹Welche Imaginationen für Europa?› während der Tagung ‹Die Seele Europas› in Brüssel. Beide sind zudem in der Kommunikation am Goetheanum tätig.

Web: www.soulofeurope2019.eu

Web: www.soulofeurope.net

Siehe auch das Bericht über die Tagung.