Immunsystem und Persönlichkeit ‒ Entstehung aus dem Du

Immunsystem und Persönlichkeit ‒ Entstehung aus dem Du

24 Januar 2022 Georg Soldner 7435 mal gesehen

Wenn wir ein Neugeborenes anschauen, erleben wir eine Begegnung mit einer Persönlichkeit. Doch die Persönlichkeit ist keine isolierte Persönlichkeit, schreibt Georg Soldner in der aktuellen Ausgabe der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›. Wie auch der Philosoph Hegel betonte, entwickeln wir uns nicht allein, sondern vieles, das uns prägt, hat mit unserer Gemeinschaft, mit unserem Schicksal zu tun.


Von Anfang an wächst die Persönlichkeit in einer Konstellation von anderen Persönlichkeiten und ganz unterschiedlichen Verhältnissen auf. Weniger bekannt ist, dass die Persönlichkeitsentwicklung mit der Entwicklung des Immunsystems intim zusammenhängt. Beide beginnen nicht erst mit unserer Geburt. Um sie zu verstehen, müssen wir noch weiter zurückblicken: in die Schwangerschaftszeit.

Die Schwangerschaft ist eine Zeit, in der wir unsere Leiblichkeit aus- oder einbilden. Dabei sind wir nicht allein, sondern als Ungeborene nehmen wir jede Freude, die Stimme, den Gesang der Mutter ebenso in uns auf wie jede Angst, jeden Stress der Mutter, der ein gewisses Maß übersteigt. Wenn wir ein Ungeborenes anschauen, dann sehen wir einen Leib im Werden. Er schwimmt im Fruchtwasser mit seinen ganz kleinen Gliedmaßen. Wir sehen seine Verbindung zum mütterlichen Leib und die äußeren Hüllen, die das Kind umgeben. Die äußerste Hülle, das Chorion, differenziert sich in ein Organ, das mit der Mutter ganz intim verwächst: die Plazenta. Sie ist das wichtigste Organ des Ungeborenen. Von ihr aus beginnt das Kind, seinen Leib aufzubauen, der zu Beginn seiner Entwicklung fast ganz Kopf ist, und entfaltet sein mächtiges Nervensystem. Die Plazenta aber hat kein Nervensystem, keine Knochen, das ganze Blut des Ungeborenen strömt in einer Minute durch sie hindurch – und doch lenkt sie in entscheidender Weise die Aufbauprozesse im Embryo. Ihre überragende Funktion ist die Wärmeregulation des Ungeborenen. Diese ist die wichtigste Regulation des Lebendigen überhaupt. Die Wärme des Ungeborenen, das ein halbes Grad wärmer gehalten wird als die Körpertemperatur der Mutter, wird von der Plazenta reguliert. Die Plazenta fungiert wie ein peripheres Herz und ist das ‹periphere Zentralorgan› dieses Ungeborenen wie die Sonne für alles Leben der Erde. Die Plazenta ist sogar ohne Embryo lebensfähig; sie ist unmittelbar mit der Mutter verwachsen. Erst nach der Geburt übernimmt unser Gehirn die eigene Wärmeregulation. Was hat das mit dem Immunsystem zu tun? Wir wissen, dass bei 39 Grad Fieber unser Immunsystem optimal leistungsfähig, dass seine Leistung wärmeabhängig ist. Selbst Tiere, deren Wärme von der Umwelt abhängt, suchen bei Infektionen wärmere Orte auf und erhöhen dadurch ihre Überlebensaussichten.

Die Plazenta ist ein Organ, das das Kind natürlich abschirmt, aber zugleich intensiv mit der Mutter verbindet. Die Plazenta ist ein Grenzorgan des Kindes zur Mutter, sie bildet einen Schutz, durch den das Kind nicht alles mitmacht, was die Mutter erlebt, aber der Schutz kann bei starkem Stress auch überwältigt werden.


Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Website der Wochenschrift lesen.


Titelbild: Malerei von Hannes Weigert, 2021