Jahresbericht 2020/21
Durch die behördlichen Maßnahmen gegen Covid-19 musste sich auch das Goetheanum immer wieder flexibel auf die jeweilige Situation einstellen und kurzfristig Möglichkeiten schaffen, um aktiv und in Kontakt zu bleiben, vor allem über digitale Medien.
In der Sektion für Redende und Musizierende Künste gab es für die Künstler/innen jedoch auch die Diagonose, dass «wenn der eigene Arbeitsraum zusammenbricht, der Lebenssinn stark angegriffen» wird. Dabei gilt es, einen Umgang mit Ungewissheit und Angst zu finden, wobei die Ausstellung ‹Aufbruch ins Ungewisse› der Sektion für Bildende Künste zeigte, dass auch «die Hoffnung, das eindrucksvolle Naturerleben, die innere Ruhe und Konzentration als eine intensive Erfahrung und die Möglichkeit einer Bewusstseinsänderung sowie der Wunsch nach sozialem Wandel zum Ausdruck» kommen. Gleichwohl sind die Folgen in manchen Ländern verheerend, etwa wenn «Kinder durch die Schließung der Kindergärten und Schulen ihre regelmäßige Ernährung» verloren haben – und nun hungern (Pädagogische Sektion). Ausgerechnet «Begegnung, Berührung, Nähe und Wärme: das Menschliche» erscheinen nun «als Gefahr» (Sektion für Sozialwissenschaften).
Beziehungsgestaltung
Nicht zuletzt auf die Anthroposophie zielten Medien in Deutschland, wenn sie den «Spuk einer unappetitlichen rechtslastigen Protestbewegung aus Corona-Leugnern, Impfgegnern, Reichsbürgern, Esoterikern und Anthroposophen» schufen, so Justus Wittich (Vorstand). Gegenüber der Tendenz des Trennens ist jedoch das Verbindende zu pflegen: «Erst in dem Anschaulichen», so eine Beobachtung aus der Sektion für Schöne Wissenschaften, «in dem bewegten Bilde wird das Geistige lebendig». Constanza Kaliks (Vorstand) beschreibt die Anthroposophische Gesellschaft als einen Raum, um «ein Verhältnis zum Geistigen zu finden».
Um für die beschriebenen Phänomene und das Anliegen der Anthroposophischen Gesellschaft einen Weg zu finden, nennt Matthias Girke (Vorstand) als Aufgaben das «Sichtbarwerden Rudolf Steiners und der Anthroposophie» sowie das Begegnen der «zahlreichen Einschätzungen zur Corona-Pandemie, die sich autonomisieren, zum Teil auch kollektivieren und nicht in einen notwendigen Austausch kommen».
Aufgaben einer Beziehungsgestaltung beschreibt Ueli Hurter (Vorstand) nach innen in einem Projekt, um Mitgliedschaft in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zu aktualisieren und zu verstärken.
Vielfach bewegten Sektionen die Beziehung zwischen Mensch und Erde. Die Jugendsektion fasst die Stimmung so zusammen: «Stört die menschliche Gegenwart die Erde?» Die Sektion für Landwirtschaft weist darauf hin, dass es seit der BSE-Krise 2000 «fast jedes Jahr eine neue Epidemie in der Tierhaltung […] oder in der Pflanzenwelt» gebe. Ziel wäre «eine partnerschaftliche Haltung zur Natur», eine «inklusive Ökologie und Landwirtschaft». Im Zug der Arbeit der Naturwissenschaftlichen Sektion wurde deutlich: «Es braucht Mut, die persönliche Verantwortung nicht fortwährend kleinzureden.» Die Allgemeine Anthroposophische Sektion schafft Möglichkeiten einer individuellen Auseinandersetzung mit Fragen von Erkenntnis und Erfahrung; zudem wird ab Herbst ein Rundbrief Mitglieder der Ersten Klasse der Hochschule miteinander verbinden.
Lebenspraxis versus Wirken alter Kräfte
Das Gelingen eines Neuanfangs ist nicht einfach. «Wenn neue Aufgaben von den Menschen aus freien Stücken ergriffen werden sollen, so ist es nur natürlich, dass […] alte Kräfte das neue Gebiet besetzen wollen oder Zerrbilder der neuen Aufgaben sich erst vordrängen», so eine Beobachtung aus der Mathematisch-Astronomischen Sektion.
Ganz lebenspraktisch enstand im Rahmen der Medizinischen Sektion ein «stadiengerechtes, integrativ anwendbares therapeutisches Vorgehen bei Covid-19 mit anthroposophischen Arzneimitteln und äußeren Anwendungen»; zudem wurden laufend Themen wie die Corona-Pandemie und Impfung behandelt.
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Motive des Arbeitsjahres 2021
Mit Blick auf die Corona-Auswirkungen haben sich für Vorstand und Goetheanum-Leitung Erkenntnismut, Eigenverantwortung und Weltbejahung als Arbeitsrichtungen für 2021 ergeben.
Erkenntnismut braucht es, um den Schleier zu durchstoßen, der sich mit der Corona-Situation über alles gelegt hat. Physisch geht es um eine nüchterne und evidenzbasierte Sicht auf die Faktenlage. Seelisch kann Erkenntnismut heißen, den Gang zur Quelle der Menschenwürde in sich zu gehen zwischen Resignation auf der einen Seite und Selbstüberschätzung auf der anderen Seite. Geistig mag die Forderung erlebt werden, mit Mut die kleinen Durchblicke von jenseits der Schwelle, die wir in ihrer Flüchtigkeit kennen, ernst zu nehmen und entschieden an einem Blickrichtungswechsel zu arbeiten.
Eigenverantwortung heißt dreierlei: die Verantwortung für mich, die Verantwortung für mein näheres soziales Umfeld und auch meine Mitverantwortung für das größere Gemeinwohl. Eigenverantwortung ist polar zur Kollektivverantwortung zu verstehen. Wird diese von Staats wegen verordnet, ist dem Pol der Eigenverantwortung besonders Sorge zu tragen, und es entsteht die Frage: Wie kann mit und aus Eigenverantwortung eine gesunde Gesellschafts- und Zeitverantwortung entstehen?
Mit dem dritten Klang Weltbejahung soll angesprochen werden, dass die Aktualität uns aufruft, in und mit der Welt den Geist zu suchen und zu realisieren – nicht zu flüchten oder den Kopf in den Sand zu stecken, sondern die Gegebenheiten zu nehmen, wie sie sind, und das Beste daraus machen.
Justus Wittich, Constanza Kaliks, Matthias Girke und Ueli Hurter
Quelle Auszug aus dem Editorial des Jahresberichts 2020/21 der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und des Goetheanum als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft