Würde des Kindes

Würde des Kindes

05 Juli 2022 Michaela Glöckler & Georg Soldner 5418 mal gesehen

400 Menschen aus 21 Ländern kamen von 15. bis 18. Juni ans Goetheanum zur Tagung zur Würde des Kindes ‹Ich fühle mich in deinen Augen gut›.


Die Frage nach der Würde des Kindes ist von brennender Aktualität: geistig, rechtlich und ökonomisch. Geistig, weil die Digitalisierung die Sinnes- und Gehirnentwicklung und damit auch die körperliche Reifung insgesamt in noch nicht absehbarer Weise beeinflusst. (Es gibt bereits Software für drei Monate alte Babys und ab da für jedes Lebensalter maßgeschneidert.)

David Martin, Professor für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin an der Universität Herdecke (DE), stellte dazu seine Initiative ‹Bildschirmfrei bis 3› vor, die bereits zwei Drittel aller Kinderarztpraxen in Deutschland erreicht und das Potenzial zu einer internationalen Verbreitung hat.

Breite Zusammenarbeit rund ums Kind

Rechtlich wächst weltweit das Bewusstsein für den Grundsatz ‹Kinderrechte sind Menschenrechte›. Claudia Grah-Wittich, Pionierin der Kleinkindpädagogik und -förderung (‹Am Hof›, Frankfurt am Main, DE), brachte mit Roll-ups und Flyern die UN-Kinderrechtskonvention ins Bewusstsein. Diese wurde gerade in der Pandemie weltweit allzu oft mit Füßen getreten.

Doch auch unabhängig von der Pandemie verlieren Kinder heute oft ihre Spiel-Räume, Eltern und Kleinkindpädagog/inn/en müssen sich Gestaltungsspielräume für eine menschenwürdige Pädagogik erkämpfen, Ärzt/inn/e/n und Therapeut/inn/en konstatieren eine wachsende Last an psychischen und chronisch-körperlichen Erkrankungen im Kindesalter. Ökonomisch leiden weltweit viele Familien, Alleinerziehende und ihre Kinder an materieller Not und hoher seelischer Belastung. Die Pandemiejahre haben diese Situation in vielen Ländern wesentlich verschärft.

Diese Rahmenbedingungen und die Tatsache, dass sich Fachleute aus 21 Ländern zur gemeinsamen Arbeit um das Kind und seine Würde versammelt haben, gaben der Tagung eine besondere Dichte und Stimmung. Besonders schön zu erleben war die Zusammenarbeit unter den Vertreter/inne/n all der verschiedenen Berufe, die sich während der Schwangerschaft, um die Geburt und in den ersten drei Lebensjahren um Kinder und Eltern kümmern. Dabei wurde deutlich, wie sehr das Kind auch nach der Geburt in Verbindung mit Eltern und Erzieher/inne/n lebt, körperlich, seelisch und als geistige Individualität, die erst langsam in den eigenen Leib einzieht.

Kindgerechte Umgebung

Therapeutische, pädagogische und soziale Unterstützung der Eltern und der Kinder sind in dieser Lebensphase nicht zu trennen – das machten die beiden Sektionsleiter Philipp Reubke und Georg Soldner zu Beginn deutlich. Kinder benötigen auch nach der Geburt eine Umgebung, die Ihnen Wärme, Geborgenheit, Sicherheit schenkt und sich zugleich von Anfang an für den Willen des Kindes öffnet.

«Lasst mir Zeit, bis ich es selbst kann», formulierte es die Pionierin Emmi Pikler. Diese Eigenbewegung, die Freude von Kindern an der Entdeckung und kleinen Abenteuern in der Natur, die Unterstützung ihrer Autonomie sind so wichtig wie die liebevolle, feinfühlige Beziehung und Versorgung ihrer Bedürfnisse.

Die Plenarvorträge der Frauen- und Kinderärzt/inn/e/n Michaela Glöckler, Angelika Maaser, Karin Michael und Jan Vagedes sowie der Kleinkindpädagoginnen und Expertinnen der Frühförderung Claudia Grah-Wittich, Ina von Mackensen, Cristina Meinecke und Katherine Scharff wechselten mit 20 international zusammengesetzten Arbeitsgruppen ab.

Das Gespräch von Karin Michael und Georg Soldner zum Thema Impfungen und zur freien Entscheidung der Eltern, wann und wogegen sie ihre Kinder impfen lassen wollen, warf ein Licht darauf, wie vielfältig die dabei zu berücksichtigenden Aspekte sind und wie verschieden sie sich in den einzelnen Ländern der Welt darstellen. Das Thema der Angst und Angstbewältigung stand im Mittelpunkt des von Stefan Schmidt-Troschke (Gesundheit aktiv, DE) geleiteten Podiums.

In sommerlich-abendlicher Wärme war auf der Terrasse die Freude zu erleben, sich am Goetheanum wieder direkt menschlich begegnen und gemeinsam neue Kraft und Impulse aus dieser Begegnung schöpfen zu können. Ein besonderes Erlebnis war die Aufführung des Goetheanum-Eurythmie-Ensembles zu Werken klassischer und zeitgenössischer Musik und Dichtung.

Öffentliches Engagement

Inhaltlich vorbereitet wurde diese Tagung von der interdisziplinären Arbeitsgruppe ‹Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit› der Pädagogischen und Medizinischen Sektion. Sie hat zahlreiche Beiträge zu diesem Thema in Deutsch, Englisch und Spanisch publiziert (Anthromedics). Deren Arbeit wird weitergehen mit dem Impuls, sich in Verbindung mit dem Goetheanum sachlich, öffentlich und international für die Würde des Kindes zu engagieren.