Das Denken muss das Töten ersetzen

Das Denken muss das Töten ersetzen

25 Oktober 2024 Nathaniel Williams 2043 mal gesehen

Die ‹Geschichte des Friedensstifters› erzählt vom Gründer der Haudenosaunee-Konföderation. Die Konföderation besteht bis heute aus sechs Nationen. Die gesamte Geschichte im Langhaus dieser Nationen zu erzählen, dauert lang. Hier gebe ich einen Auszug wieder.


Vor 600, 700, 800 Jahren herrschte in dem Gebiet, das heute New York heißt, ein ständiger Krieg zwischen fünf Nationen: Mohawk, Oneida, Cayuga, Onondaga und Seneca genannt. Sie lebten im Gebiet der Finger Lakes. Die andauernden Kämpfe waren anders, als wir sie uns heute vorstellen. Es wird erzählt, dass es eine Zeit des großen Bösen war, was sich in schwarzer Magie, aber auch Kannibalismus manifestierte. Die Konflikte schienen sich in endlosen Zyklen zu wiederholen. Zu dieser Zeit wurde ein Mensch geboren, der später als der Große Friedensstifter bekannt wurde. Schon als junger Mann war ihm bewusst, dass er die Aufgabe hat, das große Gesetz des Friedens in dieses Land des Krieges und der Konflikte zu tragen. Darum machte er sich als junger Mann auf, um dieses Gesetz zu verbreiten, und er sprach zu jedem, der ihm zuhören wollte. Doch der Zynismus und die vielen Traumata, die durch die Gewalt entstanden waren, saßen so tief, dass ihm nur wenige Menschen zuhören wollten. Den Menschen fiel es sogar schwer, den Sinn seiner Worte zu erfassen. An einem Punkt seiner Reise kam er zu einem Haus, in dem eine Frau namens Jigonhsasee lebte. Sie pflegte verwundete Krieger, ganz gleich welcher Nation sie angehörten. Ihre Hilfe diente zum Teil ihrer eigenen Belustigung, da sie sich an den Geschichten des Krieges labte, wenig wirkliches Mitgefühl mit denjenigen hatte, die sie pflegte, und es ging oft schlecht für diese aus. Der Friedensstifter schlug ihr vor, mit ihm gemeinsam zu versuchen, der ständigen Gewalt ein Ende zu setzen. Aber sie antwortete, es sei leicht, über Frieden zu reden, und schwer, Frieden zu machen. Sie bezweifelte zunächst, wie es gelingen könnte, aber die Worte und das Wirken des Friedensstifters überzeugten sie allmählich. Sie wurde eine der ersten Personen, die sich dem Friedensstifter anschlossen, und er nannte sie Jigonhsasee, ‹die, mit dem neuen Gesicht›. – Bereits in der Beziehung zwischen dem Friedensstifter und Jigonhsasee gab es eine bedeutsame Intuition für eine Art von Verfassung und Führung, in der die Häuptlinge und Führer von den ‹Sorgetragenden› ernannt wurden. In der Haudenosaunee-Konföderation, die später gegründet wurde, war dies ein Kreis von Frauen. Dieser Kreis hatte auch die Macht, einen Anführer wieder zu entmachten – ein Verfahren, das von manchen als Vorläufer des Rechts auf Amtsenthebung eines US-Präsidenten angesehen wurde. Die Frauen wählten Männer zu den Anführern der Haudenosaunee-Konföderation aus. Diese sollten eine sieben Daumen dicke Haut haben, also nicht leicht reizbar sein, Kinder und Familien haben und keine Neigung zu Gewalt und Krieg in sich tragen. Doch als der Friedensstifter auf Jigonhsasee traf und sie sich ihm anschloss, waren es noch viele Jahre, bis dies Wirklichkeit werden würde. – Sie reisten gemeinsam weiter zwischen den verschiedenen Nationen. Die mächtigsten waren die Seneca und die Onondaga.

Während sie von Nation zu Nation reisten, predigten sie, dass es ein großes Gesetz des Friedens gebe, dass es einen Weg gebe, das Kriegsbeil zu begraben, dass das Denken das Töten ersetzen müsse und dass alle Nationen unter einem Dach säßen, was schließlich das Langhaus darstellen wird. Doch jedes Mal, wenn sie zu einer Gruppe gingen und mit den Häuptlingen und den Menschen sprachen, war das Gegenargument: «Wenn jemand sein Kriegsbeil begraben hat, bedeutet dies nur, dass er verwundbar ist. Der einzige Weg, um auf Gewalt zu verzichten, ist, wenn alle zustimmen, ein großes Gesetz des Friedens zu verabschieden.»

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.


Junge, denkende Herzen

Die Internationale Schüler- und Schülerinnentagung ‹Taking Heart – Finding our way together› (Sich ein Herz fassen – Gemeinsam unseren Weg finden) fand im April 2024 am Goetheanum statt. Die Geschichte des Friedensstifters war ein zentrales Element. Die besonderen Eigenschaften der Jugend, die tief empfundenen Fragen, die großen Herausforderungen, die Flut von Enthusiasmus und Mitgefühl, erhalten einen besonderen Ort auf der Tagung. Eine intuitive Spiritualität und Weisheit leuchtet auf, besonders durch die Begegnungen, Gespräche, kreativen Akte und Erfahrungen, in denen die Lebensfragen entdeckt werden können. Wenn man so ein Treffen mit diesem erneuernden, warmen Licht erlebt hat, ist es leicht zu spüren, wie aus dem Inneren ein Appell aufsteigt, dass andere, Junge und Alte, sich ein Herz fassen mögen, das erstickende Gestrüpp von Isolation und Angst fortzuräumen und Raum zu schaffen für das junge, denkende Herz und all die Muster, die es in die Zukunft weben kann.

Die kurze Nacherzählung des Friedensstifters u. v. a. Podcasts von Nathaniel Williams finden sich unter: ‹Questions of Courage› auf Goetheanum TV, Youtube, Spotify, Google-Podcasts.

Zum Bild Auf der Tagung entstand die Haudenosaunee-Erzählung des Friedensstifters neu als Theater im öffentlichen Raum. 734 Jugendliche und weitere Gäste zogen mit großen Puppen und Kulissen von Dornach bis nach Basel ins Stadtzentrum. Foto: Xue Li