Die Einzigartigkeit jedes Menschen würdigen
Im Mai 2018 hat Bert Chase das Amt des Generalsekretärs der Anthroposophischen Gesellschaft in Kanada übernommen. Als Kind hatte der Architekt ein eindrückliches Naturerlebnis. Im Gespräch gibt er einen Einblick in das Wesen der Menschen und des Lebens in Kanada.
Sebastian Jüngel: Wonach ‹schmeckt› Kanada?
Bert Chase: Es müsste der Geschmack von kristallklarem Licht und kaltem Gletscherwasser sein – mit einer Spur von Ahornsirup.
Jüngel: Wie viele Länder oder Kulturen ‹ist› Kanada?
Chase: Eines der größten Geschenke Kanadas an unsere heutige Welt ist, sich selbst als kulturelles Mosaik zu verstehen, das allen Völkern und Kulturen offen steht – basierend auf drei Fundamenten: den ‹First Nations›, den Franzosen und den Engländern. Dieses Bild ist ein Stern, nach dem wir streben. Wir ringen darum, dieses Ideal zu erfüllen, das – dieses Gefühl haben wir manchmal – der ganzen Menschheit dienen würde.
Sehnsucht nach michaelischer Universalität
Jüngel: Welche Qualitäten von Kanada sind bereits anthroposophisch?
Chase: Im besten Fall spüren wir eine tiefe Sehnsucht nach einer michaelischen Universalität, die die Einzigartigkeit jedes Menschen würdigt, anderenfalls fallen wir in dieselbe sektiererische Spaltung, die einen Großteil der Kultur weltweit infiziert. Dann fühlen wir uns unwohl und erinnern uns an den Ruf, unsere eigene Vision einer gemeinsamen Menschheit zu entwickeln.
Jüngel: In welchen Bereichen ist die Anthroposophie in Kanada stark? Und wissen Sie, warum?
Chase: Kanada ist ein riesiges Land. Jeder Region hat seine eigenen Stärken und Aufgaben. Was vielleicht gemeinsam ist, ist ein Impuls des Sorgetragens – für das Land, die Kinder, die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die älteren Menschen, die Menschen im Gefängnis. In Kanada waren wir aufeinander angewiesen, um im rauen Klima zu überleben. Dieses soziale Bewusstsein ist der Boden, der uns trägt …
Jüngel: Als Sie gebeten wurden, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Kanada zu werden, haben Sie da eine Veränderung in Ihrer Beziehung zum Volksgeist des Landes gespürt, das Sie repräsentieren?
Chase: Das ist eine schwierige Frage, mit der wir seit Jahrzehnten leben. Wer ist dieses Wesen, an dem wir uns zu orientieren versuchen? Wir haben das Gefühl, dass sich dieses Wesen noch nicht ganz offenbart hat, dass wir es suchen, wie es nach uns sucht. Aber was wir haben, ist das Gefühl, dass dieses Wesen Michael nahesteht, ein Begleiter von Michael ist.
Wunder der engen Zusammenarbeit: Rudolf Steiner und Edith Maryon
Jüngel: Als Architekt sind Sie es gewohnt, in Beziehungen zu denken. Sehen Sie eine Ähnlichkeit zum Bilden sozialer Gemeinschaften?
Chase: Wir haben das Geschenk der bemerkenswerten Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Edith Maryon. Sie ist ein wunderbares Beispiel für die geheimnisvolle Frage, wie sich das jenseits der Schwelle Lebende offenbart: Es braucht dafür Substanz, den künstlerischen Prozess, der es von der Ewigkeit löst, und das Wunder enger Zusammenarbeit, um unseren Egoismus zu mildern. Was brauchen wir mehr als einen Leitfaden für unsere Arbeit und eine Lehre, um Beziehungen zu heilen?
Jüngel: Als Kind hatten Sie eine tiefe Erfahrung mit der Größe und Tiefe der Natur. Sehen Sie einen Unterschied zwischen Eindrücken aus der Natur und Inspiration durch den Geist?
Chase: Meine erste Erinnerung ist Sonnenlicht, in einem Universum von Regentropfen eingefangen. Diese sonnengefüllten Tröpfchen verhüllten die schlummernden Steine einer alten Stätte im Regenwald der umgebenden Berge. Dieses Wunder des Lichts im Substanziellen öffnete mir die Augen für die Welt. Es weckte auch ein tiefes Gefühl für das verborgene Licht in allen Substanzen. Das Erlebnis dieses Wunders hat mich nie verlassen. Es zog mich zu meiner Lebensaufgabe als Architekt. Es führte mich zu meiner Begegnung mit Rudolf Steiner.
Reden – und zuhören
Jüngel: Was kann die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft von der kanadischen Kultur oder Lebensweise lernen?
Chase: Wir vertrauen auf das Reden, Reden und Reden … – und hoffentlich auch auf das Zuhören. Dies ist ein Geschenk der Ureinwohner, die einen Sinn dafür haben, dass alle Stimmen gehört werden müssen, ihren Platz und Wert haben. Wir sind abgeneigt, vorzeitig zu einem Ergebnis zu kommen, da wir spüren, dass wir, wenn wir voraneilen, doch wieder nur zurückgehen müssen. Dies ist eine schwierige Lektion in unserer an Schnelligkeit gewohnten Welt, aber eine, an der wir ständig arbeiten.
Jüngel: Was kann die Anthroposophische Gesellschaft in Kanada von der anthroposophischen Bewegung weltweit lernen?
Chase: Vielleicht wurde ich gebeten, die Verantwortung des Generalsekretärs zu übernehmen, damit ich erfahren kann, was das sein könnte. Das, was Anthroposophie der Welt gibt, ist in den letzten Jahren zu einem außergewöhnlichen Kaleidoskop an Möglichkeiten geworden. Das auf etwas Bestimmtes zu beschränken, würde etwas begrenzen, was immer im Wachstum begriffen ist, sich ausweitet und sich entwickelt – etwas, was nicht begrenzt werden kann.
Jüngel: Zu Beginn haben wir eine Eigenschaft Kanadas gesucht. Lassen Sie uns mit einem Witz oder einer Anekdote schließen, die Sie als Beispiel für die kanadische Art zu lachen schätzen.
Chase: Nun, ich lebe hier erst seit 40 Jahren – oder? – und wurde nicht mit Hockeyschuhen geboren; also, wie kann ich kanadischen Humor kennen? Aber … was ich weiß, ist, dass wir uns absolut sicher sind, wer wir sind – richtig! Oder? Genau, wir sind keine Amerikaner – oder? Richtig! Kommen Sie zu einem Besuch und lachen Sie mit uns! Oder nicht?
Aus dem Englischen von Sebastian Jüngel.
Web: www.anthroposophy.ca
Interview von Robert McKay mit Bert Chase: www.anthroposophy.ca/en/public-news/2016/05/31/interview-with-bert-chase
Foto: Lenard Langlois