Gewahr werden des Menschen

Gewahr werden des Menschen

27 Mai 2020 Florian Osswald & Claus-Peter Röh 7469 mal gesehen

Bildungseinrichtungen sind weltweit durch die Sars-CoV-2-Maßnahmen radikal mit dem Einsatz digitaler Technologie konfrontiert. Eine ihrer Eigenschaften ist es, menschliche Fähigkeiten zu überbieten. Wird die Perspektive nicht geweitet, geraten die spezifischen Qualitäten des Mensch(lich)en aus dem Blick.


Entfalte dein Potenzial und entfalte es immer weiter und weiter. Das ist die heutige Bildungsdevise. So darf der Mensch sich ständig weiterbilden, alles selbsttätig entdecken und permanent Neues schaffen. Die Ansprüche sind so groß, dass die Überforderung fast eine logische Konsequenz ist.

Alain Ehrenberg sah 2008 (in seinem gleichnamigen Buch) das erschöpfte Selbst voraus. Um nicht in diesen Zustand zu gelangen, entsteht der Wunsch nach einem sicheren Weg, den Anforderungen zu genügen. Ein solcher Weg ist bestimmt von Kontrolle und Macht. Was nicht berechenbar oder planbar ist, erscheint fragwürdig. Was die Welt gegenwärtig in großem Stil erlebt, ist die Installation eines Kontrollmechanismus. Er weckt wieder den alten Glauben, dass Mensch und Welt kontrollierbar sind.

Zum Einsatz von Technologie, die die Umsetzung dieser Prinzipien ermöglicht, gehört eine stille Voraussetzung: ihre Verfügbarkeit – was alle ausschließt, die keinen Zugang haben, abgesehen davon, dass nicht alle mit ihr zurechtkommen. Zum anderen besteht die Gefahr, auf das, was Technik ‹kann›, reduziert zu werden. Schließlich ist auch diskriminierend, wenn die Begleitung durch eine Lehrperson eine Frage des Wohlstands ist im Sinne von: ‹Den Armen geben wir die Maschine, den Reichen die Menschen.›

Wirken durch Anwesenheit

Damit ist auf einen zweiten Weg hin­gewiesen. Seine Stärke liegt im Beziehungs­angebot. Bezugspersonen strafen und drohen nicht. Sie wirken durch ihre Anwesenheit. Sie halten – unabhängig vom Verhalten des anderen – das Beziehungsangebot offen. Ihre Kontrolle ist die Selbstkontrolle. Verfehlungen treten sie entgegen, ohne die Beziehung infrage zu stellen. Sie sprechen beharrlich das Gute im Menschen an.

Im Ringen um die Erziehungskunst beim Umgang mit Bestimmungen und Online-Stunden brechen für Augenblicke neue Qualitäten des Menschseins auf. Etwa der Moment, in dem eine große Herausfor­derung erst durch ein initiatives Zusammenwirken zwischen den Lehrkräften gemeinsam mit Eltern gemeistert wird: Persön­liche Briefe werden geschrieben, Telefonate geführt, Aufgabenstellungen übermittelt. Oder jener Augenblick, in dem eine Schülerin nach Wochen der Entfernung ihrer Lehrerin wieder gegenübersteht. Die Kollegin dazu: «Da war das gegenseitige Aufmerken – das bist du!» Im Raum zwischen Mensch und Mensch taucht das sonst Gewohnte für einen Moment im Bewusstsein auf.

‹Vibrieren› beim Begegnen

Die Beschreibung des Ich-Sinns im achten Vortrag von Rudolf Steiner zur Menschenkunde (GA 293) wird greifbar: In der Unmittelbarkeit der Begegnung, im ‹Vibrieren› zwischen Sympathie und Antipathie, zwischen Hinwendung und Bewusstwerdung, kann der Mensch eines Wesenhaften des anderen Menschen gewahr werden. Auch bei den älteren Jahrgängen treten im Wechselspiel von Online-Wochen und realer Begegnung solche Augenblicke des Den-Menschen-neu-gewahr-Werdens auf.


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