Verinnerlichung ist Grundlage, nicht aber Ziel

Verinnerlichung ist Grundlage, nicht aber Ziel

01 Mai 2019 Alejandro Ranovsky 3495 mal gesehen

Die Wirksamkeit der anthroposophischen Arbeit basiert auf einem geistigen Impuls und dem Studium der Anthroposophie. Diese richtet sich nicht an eine bestimmte Gruppe, sondern steht grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung. Hier folgen Ausschnitte aus einem Beitrag von Alejandro Ranovsky während der Jahreskonferenz am Goetheanum.


Was ist der Vorteil, so weit weg wie in Argentinien zu sein? Das bringt die Menschen dazu, kreativ zu sein. Das hilft auch, den zeitlichen Abstand von 100 Jahren nach Gründung der ersten Waldorfschule zu interpretieren. Wir haben mit ihr einen Schatz geschenkt bekommen. Diesen kann man verbergen, unverändert zurückgeben oder fruchtbar machen, sodass mehr aus ihm wird, als man geschenkt bekommen hat.

Wie bleibt die Waldorfbewegung lebendig erhalten und fruchtbar in jedem Kontext heute? ‹Erhalten› bedeutet ‹konservieren›, braucht aber auch den beständigen Austausch mit dem Umfeld, das von sich selbst und vom Einzelnen verändert wird. Was müssen wir erhalten, was müssen wir verändern, damit der Impuls der Anthropo­sophie lebendig bleibt? Der geistige Impuls ist geistig zu erhalten, er kann nicht geändert werden; was historische und lokale Bedingungen waren, gilt so heute nicht mehr.

Fruchtbar machen für jedes Kind

Wir sehen 1919 die schöpferische Geste Rudolf Steiners. Er war aus der damaligen sozialen Situation heraus tätig. Diese Geste muss gepflegt, muss bewahrt werden. Wenn wir aber die Gründung der ersten Waldorfschule reproduzieren, würden wir Kopien anfertigen, die von Mal zu Mal blasser werden. Wenn wir aber die schöpferische Geste aufnehmen, müssen wir auch – nach Rudolf Steiner – in Dialog treten mit dem Rechtsleben, mit dem akademischen Raum und der sozialen Wirklichkeit der Menschen. Die erste Waldorfschule wurde für die Kinder der Arbeiter gegründet, heute sind sie vielerorts nicht Teil einer Waldorfschule. Heute geht es darum, dass sich Waldorfschule nicht in einem geschlossenen Raum immer weiter verbessert, sondern dass der geistige Impuls für jedes Kind fruchtbar werden kann.

In Argentinien hatten wir in unserer waldorfpädagogischen Arbeit drei Achillesfersen: Im Bereich der Kultur war unsere interne Sprache nicht für den Dialog mit dem wissenschaftlichen Kontext geeignet. Gegenüber dem Staat haben wir immer wieder nach Ausnahmen von Gesetzen gefragt, um unsere pädagogische Freiheit zu wahren. Auf sozialer Ebene haben wir uns durch Jahrzehnte hindurch mit einer speziellen gesellschaftlichen Gruppe befasst, einer privilegierten, homogenen Gruppe, haben uns also nicht allen Gruppen im Land zugewendet. Kurz: Wir entsprachen dem von Rudolf Steiner gegebenen Dreigliederungsimpuls nicht in allen drei gesellschaftlichen Bereichen.

In die Bedingungen hinein tätig sein

Wir suchten den Kontakt mit den Behörden, schauten die Ausbildungsprogramme für Lehrer an, um aus der Anthroposophie heraus dort etwas einzubringen, was die Programme von innen so ergänzte, ver­wandelte, dass die Anregungen aus der Anthroposophie allen Lehrern zur Ver­fügung stehen. Zum Beispiel werden wir nicht sagen, dass wir Kinder mit Geometrie nicht schon in jungen Jahren intellektualisieren wollen, sondern machen es – wenn es eine staat­liche Vorgabe ist – so, dass es für die Kinder stimmig ist.

Die jungen Lehrer und die Lehrer in der Ausbildung an unserem offiziell anerkannten Institut möchten aus der Anthropo­sophie heraus tätig werden. Sie finden keine wünschenswert gestalteten Gegebenheiten vor, sondern sie gehen sozusagen in ein Unwetter hinein und gestalten ihre Arbeit aus den Bedingungen heraus, wo sie gerade stehen. Mit dieser Haltung versuchen wir, aus der Ecke der alternativen Pädagogik herauszukommen – es ist die Ecke der Selbst­verteidigung, in der der Schatz gehütet werden muss, damit er nicht kontaminiert wird. Es ist der gefährliche Ort der Reinheit, der Perfektion, des Stagnierens.

Wenn wir diesen Schatz verschenken, wird er nicht verdünnt, sondern zum Samen für eine kulturelle Veränderung und Verwandlung. Das Studium der Anthropo­sophie, die Verinnerlichung ist Grundlage, aber nicht das Ziel. Das Ziel liegt in der Zukunft – und die Zukunft liegt draußen.


Gestörte Inkarnation

Wer das Leben betrachtet, wird insbesondere in unserer so furchtbar materialistischen Zeit finden, dass der Fall, den ich soeben geschildert habe, unzählige Male im Leben wirklich da ist. […] Da steckt etwas in der Individualität, aber es kann nicht heraus, weil die andere Entwickelungsströmung bis zum entsprechenden Zeitpunkt nicht richtig besorgt worden ist. […] [Verirrungen furchtbarster Art kommen daher,] dass er [der Betroffene] in der gegenwär­tigen Inkarnation nicht die Organe hat, um gerade seine guten Anlagen zur Ent­wickelung zu bringen. Da ist es für ihn eine Wohltat vielleicht, dass diese An­lagen des Ich zerstören, zerreißen die Hülle, um sich in einer folgenden Verkörperung eine bessere Möglichkeit zu schaffen für seine Entwickelung. […] Es wird ja nicht immer in dieser radikalen Weise auftreten, aber es tritt in unserer Zeit noch öfter auf in dem, was heute so häufig ist: in unzufriedenen Seelenstimmungen, in der Hoffnungslosigkeit, in dem Nichtwissen, was man mit sich anfangen soll, insbesondere in den Zeiten vom 14., 15. bis zum 21. Jahre.

Rudolf Steiner, Quelle: GA 118, Vortrag vom 30. Januar 1910. Bezug: Ausführungen zur Situation gewaltbereiter Kinder und Jugendlicher auf der Jahreskonferenz.