«Wir brauchen große Künstler»

«Wir brauchen große Künstler»

25 September 2019 Stanislav Tatlok 2079 mal gesehen

Georgy Kavtaradze, geboren 1942, ist Leiter des Sophien-Zweigs St. Petersburg, Über­setzer von Werken Rudolf Steiners und Gründer des Damaskus-Verlages in St. Petersburg. Der außerordentliche Professor für Wirtschaftsgeschichte an der St. Petersburger Universität weist darauf hin, dass Russland anders tickt als der Westen.


Stanislav Tatlok Wer ist ein moderner Anthroposoph?

Georgy Kavtaradze
Die erste Generation Anthroposophen hatte ein klares Bewusstsein, eine feste Überzeugung und einen inneren Kern, den ich in den folgenden Generationen so nicht mehr sehe. Sie verkörperten Anthroposophie, gefördert durch den Druck der sowjetischen Situation. Die neue Generation hat Hindernisse, die meine Generation nicht hatte, zu überwinden, um Anthroposophie zu erreichen. Wenn sie es schafft, wird sie eine Stärke entwickeln, die wir nicht haben. Das betrifft ein sehr breites Spektrum an Menschen.

In den modernen Kulturraum hinein

Tatlok Worin besteht die heutige Aufgabe der Anthroposophie in Russland?

Kavtaradze
Meiner Meinung nach darin, Wege zu finden, Anthroposophie in den modernen Kulturraum einzuführen, ohne die eigene Identität zu verlieren.

Tatlok
Welche positiven Veränderungen in der anthroposophischen Bewegung in Russland haben in den letzten 20 Jahren stattgefunden?

Kavtaradze
Die Menschen haben verstanden, dass Anthroposophie ihren geistigen Bedürfnissen entspricht und dass Menschen in verschiedenen Initiativen tätig sind. Zum Beispiel das ‹Mobile Pädagogische Seminar› in verschiedenen Städten, das in 30 Jahren Kontinuität immer wieder von neuen Interessenten wahrgenommen wird.

Tatlok
Was ließe sich in der anthroposophischen Bewegung in Russland verbessern?

Kavtaradze
Sie befindet sich in einem Wachstumsprozess; notwendig ist, dass sie ihren ‹Buchcharakter› überwindet.

Tatlok
Es gibt die Meinung, Russland werde – anders als beispielsweise Brasilien – nicht in der Lage sein, die nächste kulturelle Epoche anzuführen. Was meinen Sie?

Kavtaradze
Wer kann so weit vorausschauen, wie sich die Welt in 1500 Jahren ver­ändern wird? Russland geht einen anderen Weg als die westliche Welt; es muss jetzt den Westen imitieren, um seinen Platz in der modernen Welt zu behalten. Im Westen leben die Menschen vor allem vom Intellekt aus und arbeiten intensiv an den Inhalten der Geisteswissenschaft, die allmählich in die Tiefen der Seele sinkt. Derselbe Weg, in Russland gegangen, führt dazu, dass Anthroposophie an der Oberfläche des Bewusstseins steckenbleibt und nicht in die Tiefe geht. Das ist ein großes Problem! Wir müssen unseren eigenen Weg finden.

Tatlok
Wird die Anthroposophische Gesellschaft Kern und Struktur behalten oder wird sie sich in etwas völlig Neues verwandeln?

Kavtaradze
Sie sollte nicht konserviert werden. Ich habe den Eindruck, dass sich der Schwerpunkt in kleine Gruppen verlagert, wo das wirkliche Leben stattfindet.

Achtsam auf Vorbilder in der Kunst sein

Tatlok Heute gibt es in Russland eine Nachfrage nach spirituellen Praktiken, oft um persönlichen Erfolg zu erzielen.

Kavtaradze
Sie haben das gerade veröffentlichte Buch ‹Carmalogic› mit 840 Seiten vor sich. Zwar greift es das Bedürfnis nach Spiritualität auf, aber aus der Perspektive von Eliten der russischen und europäischen Gesellschaft. Die Anthroposophie bietet eine Reihe an spirituellen Praktiken im Bereich karmischen Wissens an.

Tatlok
Rudolf Steiner wollte anthropo­sophische Kunst im Einklang mit den anderen Künsten sehen. Geht das?

Kavtaradze
Ich bin sicher, es wird geschehen, aber wir brauchen dafür große Künstler wie Gerard Wagner und Albert Steffen.

Tatlok
Welche Rolle spielt die Kunst in der modernen Welt?

Kavtaradze
Kunst wird als Unterhaltung gesehen – sie ‹reizt› die Nerven, geht aber nicht tief. So verblasst die Kunst. Doch irgendwo werden Vorbilder auftauchen! Sie müssen aber gesehen werden.


Aus dem Russischen von Jonas Lismont.

Web: www.anthroposophie-ru.org